Cuvilliés Theater Philoktet von Heiner Müller


 

Schlacht der Worte

Jede Auseinandersetzung mit dem Werk Heiner Müllers wird zu einem intellektuellen Kraftakt. Es ist stets Weltanschauungstheater. Und so haben seine Dramen keinen historischen, sondern Modellcharakter. Wie schon Brecht in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts in seinen Lehrstücken, sind auch Müllers dramaturgische Konstrukte „Versuchsanordnungen“. In „Philoktet“ ist eben derselbe der „Störfaktor“ auf dem Weg der Griechen in die Stadt Troja. Dabei schert sich Müller wenig darum, wie der Mythos bei den Griechen endet. Mit den Waffen des Herakles ausgestattet, Philoktet entzündete den Scheiterhaufen für die Selbstverbrennung des Göttlichen, galt er als einer der stärksten und verlässlichsten Krieger und Bogenschützen. Auf dem Weg nach Troja wurde er von einer Schlange gebissen. Die Wunde entzündete sich. Der Gestank des schwärenden Beins und die lästigen Schmerzensschreie veranlassten Odysseus, Philoktet auf der menschenleeren Insel Lemnos auszusetzen. Nach fast zehn Jahren, so der Mythos, kehrte Philoktet in die Schlacht vor den Toren Trojas zurück. Ein Seherspruch hatte orakelt, dass ohne Philoktet der Krieg nicht gewonnen werden könnte. Vor den Toren Trojas tötete Philoktet Paris im Zweikampf, den Mann, der mit seiner Entführung der Helena den Grund für den Krieg der Griechen gegen Troja geliefert hatte. Dabei ist es sehr wichtig zu wissen, dass die Götter, wie einem Spieltrieb folgend, im Hintergrund die Fäden mitgezogen hatten und den Helden ihre Gunst schenkten oder sie ihnen auch versagten.

Nicht so bei Heiner Müller. Hier sind die Götter, die Konflikte willkürlich auflösen konnten, tot. Bei Müller bleiben antagonistische Widersprüche unverhandelbar und nicht lösbar in der gegeben Konstellation. Hier bleibt Einer auf der Strecke. In diesem Fall ist es der Titelheld selbst. Seit beinahe zehn Jahren lagern die Griechen vor Troja, doch die Stadt scheint uneinnehmbar. Odysseus, in der Antike der Listenreiche genannt, dabei ein mit allen Wassern gewaschener Politiker, Stratege und Demagoge, weiß längst, dass die Entscheidung baldmöglichst herbeigeführt werden muss, denn die Chancen der Griechen auf einen Sieg schwinden täglich. „Und jeder Augenblick, versäumt hier, tötet in der entfernten Schlacht uns einen Mann.“ Mit diesen Worten versucht Odysseus Philoktet  zu überzeugen. Doch der Grieche ist längst nicht mehr Grieche. Griechen sind ihm verhasst, allen voran Odysseus. Dies wissend hat Odysseus den jungen Neoptolemos mitgebracht. Neoptolemos ist der Sohn Achills, der inzwischen vor Troja sein Leben gelassen hat. Der „listenreiche“ Odysseus hat den jungen Mann um sein rechtmäßiges Erbe gebracht, die Waffen des Achilleus. Und eben diese Perfidie, sucht Odysseus für seinen Plan zu nutzen. Wenn Philoktet erkennt, dass Neoptolemos Odysseus aus gutem Grund ebenso hasst wie er selbst, wird er dem Heldensohn vertrauen und seine Waffen aus der Hand lagen. Erst einmal entwaffnet, kann man seiner habhaft werden und ihn gegebenenfalls gebunden nach Troja bringen. Der Plan geht vorerst auf. Doch Neoptolemos ist von Krieg und Politik noch nicht hinreichend korrumpiert. Er glaubt an Werte wie Aufrichtigkeit und Ehre, an Wahrheit und Respekt. Angesichts der Szenarien, die Odysseus aus dem Stehgreif zu entwickeln vermag und die eben geäußerten Wahrheiten konträr widersprechen, entschließt er sich, Philoktet dessen Bogen wieder auszuhändigen. Damit ist für Odysseus klar, dass die Mission gescheitert ist, denn Philoktet ist unversöhnlich. Als Neoptolemos erkennen muss, das auch er Philoktet mit aufrichtigen Argumenten nicht überzeugen kann, wieder in den Krieg einzutreten, rammt er ihm sein Schwert in den Rücken und rettet somit Odysseus das Leben. Der hat schnell Antworten parat, wie er auch diese Situation politisch nutzbringend ummünzen kann. Entscheidend ist für ihn ohnehin der Besitz des Bogens als magisches Symbol. Er schiebt den „feigen Mord“ an Philoktet den Troern in die Schuhe. Neoptolemos, an seine ethhischen Grenzen gelangt, schickt sich an, auch Odysseus zu töten. Wenn die Troer einen Griechen getötet haben, warum nicht zwei? Odysseus erklärt dem verzweifelten Idealisten, dass er damit nicht durchkommen werde im Heerlager der Griechen, denn er braucht einen verlässlichen Zeugen. Zuletzt verhöhnt er den jungen Mann mit der Ankündigung: „Vor Troja werd ich dir die Lüge sagen / Mit der du deine Hände waschen konntest / Hättest du mein Blut vergossen jetzt und hier.“

  Philoktet-Cuvillies  
 

Franz Pätzold, Aurel Manthei, Shenja Lacher

© Matthias Horn

 

Das Bühnenbild von Johannes Schütz folgte ganz der Idee vom Modellcharakter des Dramas. Mitten auf der Bühne, die mit Vogelfedern bedeckt war, denn Philoktet ernährte sich seit Jahren von den Vögeln, hing ein Mobile, bestehend aus zwei Objekten: Ein Leuchtballon und ein Wohnraum oder Unterschlupf. Das meinte: "Das Mobile ist fixiert, die Verhältnisse können von den Figuren selbst nicht mehr aus dem Gleichgewicht gebracht werden." (Zitat Website Residenztheater: Mobile Immobil) Innerhalb dieser Strukturen steuerte das Drama nun auf seine Katastrophe zu. Regisseur Ivan Panteleev baute, und das ist ganz im Sinn von Heiner Müller, auf das Wort. Als 1968 die Uraufführung des Stückes über die Bühne des Münchner Residenztheaters ging, kritisierte der Spiegel sinngemäß, dass es sich bei „Philoktet“ eher um ein Lesedrama, als um ein Spieldrama handele. Dass es sich dabei als eine Fehleinschätzung des Stückes erwies, bewies die Inszenierung von Panteleev. Den Schauspielern oblag es, den Text zu vermitteln und dabei „Haltungen“ zu spielen. Müller selbst verwies darauf, dass ihm darum gehe „Haltungen zu zeigen, nicht Bedeutungen“. Konkret zeige das Stück „drei Fehlhaltungen in einer Zwangslage“. (Zitat Programmheft)

Tatsächlich erlebte der Zuschauer im Cuvilliestheater eine Schlacht der Worte und ihre Sprecher verkörperten dabei Protagonisten einer Zeit, die von Krieg, Demagogie und Gewalt beherrscht wird, also auch unserer heutigen Zeit. In einer und einer dreiviertel Stunde schlugen drei großartige Mimen, sprach- und wortgewaltig aufeinander ein und es gab Momente, in denen das Blut in den Adern gefror ob der Realität, die dieses „Modell“ von der Welt sichtbar werden ließ. Dieses Drama war ein einzigartiges Beben der Weltgeschichte, das wenig Raum für Optimismus ließ. Dabei waren die Haltungen durchaus nicht durchgängig statuarisch. Als Franz Pätzold in der Rolle des wankenden Neoptolemos Aurel Manthei als  Philoktet den Bogen zurückgab, offenbarte sich bei Odysseus eine große Erbärmlichkeit, die dem König von Ithaka eigen war. Shenja Lachers Odysseus knickten plötzlich in einem Anflug von physischer Feigheit die Beine weg und er war für einen Augenaufschlag eine lächerliche Figur. Es war kein psychologisches Seelendrama und so wurde nur sehr wenig von der Innenwelt der Protagonisten sichtbar, wenn aber doch, dann handelte es sich um „Allzumenschliches“ und hatte eine gewaltige Wirkung.

Mit dem geradezu frenetischen Applaus feierte das Publikum drei grandiose Schauspieler, zugleich aber auch eine Form des Theaters, das gänzlich ohne inszenatorisches Beiwerk und publikumswirksame Anbiederung auskam. Dieses hochartifizielle Theater war schmerzlich in seiner Wucht und Direktheit und ebenso ein Abend der bitteren Erkenntnisse über das Wesen des „Zoon politikon“ und über seine Geschichte, die wenig Hoffnung macht. Der Abend offenbarte zugleich die Zeitlosigkeit der Stücke Heiner Müllers, die vornehmlich eins sind: unbequem in ihrem Wahrheitsgehalt.

 

Wolf Banitzki

 


Philoktet

von Heiner Müller

Aurel Manthei, Shenja Lacher, Franz Pätzold

Regie: Ivan Panteleev

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