Spielhalle Der imaginäre sibirische Zirkus des Rodion Raskolnikow von Kristian Smeds


 


Raskolnikow Oder Furcht und Zittern

Rodion Raskolnikow ist ein armer, doch dünkelhafter Student der Rechte. Er hält sich einerseits für zu kurz gekommen im Leben, andererseits wähnt er sich seinen Zeitgenossen gegenüber aufgrund seiner Intelligenz und seiner Weltanschauung überlegen. Aus dieser Haltung heraus entwickelt er ein moralisches System, das einen Mord „erlaubt“. Er, der wertvolle Mensch, ein Auserwählter, ein Napoleon, wird von den Lebensumständen in den irdischen Staub gedrückt. Die alte, reiche Pfandleiherin hingegen, die ihr Vermögen nach ihrem Tod der Kirche vermachen will, ist eine „Laus“, unwert, in diesem Wohlstand zu leben. Diese Ungerechtigkeit auszugleichen, tötet Raskolnikow sie. Doch unmittelbar nach der Tat, während er sein Beute zusammenraffen will, sieht er sich einer anderen Frau gegenüber, der geistig zurückgebliebenen Schwester der Ermordeten. Auch ihr spaltet er mit der Axt den Schädel. Entsetzt über die Bluttat, ist er nicht imstande, seine Beute in Sicherheit zu bringen. Er verbirgt sie auf seiner Flucht unter einem Stein. Unerkannt in seinem Quartier angelangt, fällt er in einen tagelangen Fieberschlaf. Der Untersuchungsrichter Marmeladow kann Raskolnikow als vermeintlichen Täter ausmachen, ihm die Tat aber nicht beweisen. Es folgt ein langwieriger psychologischer Krieg, in dem Raskolnikow schließlich seinen eigenen Skrupeln erliegt. Im Epilog des Romans wird die achtjährige Haft in einem sibirischen Arbeitslager Raskolnikows entworfen und ein Läuterungsprozess beschrieben, der in der Entdeckung der Liebe (Auferstehungsmetapher) gipfelt. Die Geschichte von Lazarus verweist unmissverständlich darauf.

In diese Zeit siedelt Kristian Smeds seinen „imaginäre sibirische Zirkus des Rodion Raskolnikow“ an. Es sind wüste, noch immer vom Überlegenheitswahn und den Zwiespältigkeiten gespeiste Fantasie und Fieberträume Raskolnikows. „Aber er schämte sich nicht seines rasierten Kopfes: sein Stolz war schwer verletzt, und er erkrankte auch an verletztem Stolze.“ Die Figuren, die aus dem Unterbewusstsein heraufdrängen, sind heruntergekommene, unberechenbare, zu allem fähige Clowns. Diese Clown erinnern an die antiken griechischen Erinnyen, nur verrichten sie ihren Dienst an der Schuld anarchischer und egoistischer. Ihr diabolisches Wesen ist unsterblich und ihr Auftauchen ist die Hölle. Die wichtigste Eigenschaft der (christlichen) Hölle ist: Man kann ihr nicht entkommen. So bleibt dem Betrachter nur, sie auszuhalten. Von Reue keine Spur: „Nur darin erkannte er (Raskolnikow – W.B.) sein Verbrechen an, nur darin allein: dass er es nicht ertragen und ein freiwilliges Geständnis abgelegt hatte.“

Smeds Figuren sind tatsächlich Clowns, die komisch sind und unterhalten. Eine Weile zumindest, so lange die Introduction dauerte. Da jagte eine Slapsticknummer die nächste und jeder bekam sein Fett oder auch Rasierschaum weg. Und als man sich als Zuschauer gerade beschaulich einrichten wollte, kippte die Geschichte in die Unberechenbarkeit. Die von Bretterwänden begrenzte Manege (Bühne und Kostüme: Ene-Liis Semper ) wurde zum Schlachtfeld. Unvermittelt wurde geschlagen, erniedrigt, verstümmelt und verhöhnt, angepeitscht von diabolischer Musik, die alles Leid zusätzlich auch noch zu verhöhnen schien. Es herrschte, sehr diktatorisch, „der König von Humooor“ (Ernst Jandl). Kristian Smeds sagte selbst zum Thema Humor: „Humor soll, wie Kaffee, schwarz und stark sein, und es soll auf jeden Fall eine ausreichende Menge davon geben.“
 
Es gab eine Menge davon, leider unterm Strich ein Quäntchen zu viel. Nach annähernd zwei Stunden mit leicht spaßhaften bis zu exzessiv martialischen Humor war die Aufnahmefähigkeit und das Vermögen, zu ertragen, erschöpft. Das Pausenlicht kam einer Erlösung gleich. Der zweite Teil, man sah ihm nicht gänzlich frei von Befürchtungen entgegen, gestaltete sich jedoch total anders, wohltuender, und inhaltlich deutlicher im Bezug zum Thema Dostojewski und Raskolnikow. Die Bodenplatten waren entfernt worden und im Untergeschoss hatten sich die Darsteller zu einer gemeinsamen Lesung aus „Schuld und Sühne“ um einen Tisch versammelt. Die Lesung, die mehrsprachig stattfand, die deutsche Übersetzung wurde mitgeliefert, wurde per Video in den Zuschauerraum übertragen (Video: Lennart Laberenz). Während der Lesung wurden der Fußboden wieder geschlossen und die ganze Geschichte, die als Urmythos ewig weiterschwelen wird, quasi „unter den Teppich gekehrt“.  Der Kreis der immerwährenden menschlichen Geschichte, eine Geschichte des Versagens, schloss sich.

Kristian Smeds Inszenierung ist Theater der anderen Art. Er beruft sich unter anderem auf Grotowski, einen Theatermacher, der lebenslang bemüht war, eine Theatersprache zu entwickeln, die über nationale kulturelle Grenzen hinausging. Er suchte die geeinte Sprache aller Menschen, wie sie vor dem Turmbau von Babel existierte. Kristian Smeds, wie auch Grotowski, favorisiert den Mythos, das Gefühl, die Metapher, das Unterbewusste als sprachliche und gestische Elemente und kehrt sich damit von der Spitzfindigkeit der Modere, von ihrer unerbittlichen Rationalität, die nicht selten in plattem Realismus verharrt, ab. Sinnlich erfahrbare Materialien bestimmten das Spiel, wie: Steine, Wasser, Holz, etc. Dieses Spiel will nicht nur genossen, sondern gelegentlich auch ausgehalten werden.

Hilfreich dabei war das ausgefeilte Spiel der Darsteller, das, wie könnte es bei diesen Inhalten auch anders sein, von dezent melancholisch (Edmund Telgenkämper als vornehm zurückgenommener Clown mit distinguiertem Ekel vor der Realität) bis zu entfesselt berserkerhaft (Hannu Pekka Björkmann als animalischer Wuchtbrocken) reichte. André Jung brillierte auch in dieser Rolle als (vermuteter) Zirkusdirektor, mit den ihm eigenen (schauspielerischen) Naturell, sich an die Dinge betont behutsam heranzutasten und sie dabei gleichsam in ihrem Wesen zu entlarven. Juhan Ulfsak spielte eine egomanischen Clown der unweigerlich an sich selbst scheitern musste. In ihm war Raskolnikow noch am ehesten zu entdecken. Katja Bürkle wechselte beinahe übergangslos vom weinerlichen Clown, dem man die Playmobilfiguren genommen hatte, in die Rolle des Bestrafenden, der Füße abhackt. Annamaria Lang gab überwiegend die Opferrolle, anmutig als wuschelköpfiges, sangesfreudiges, tanzwütiges „Negerlein“, später als Schwester Raskolnikows, die sich wegen einer Zwangslage „prostituieren“ muss, was für Raskolnikow der letzte Anstoß für die Gewalttat war.

Kommentiert und begleitet wurde das Spiel von dem Musiker Timo Kämärainen. Dass vieles in der Inszenierung nicht über die Maßen ernst genommen werden sollte, unterstrich vorzugsweise die Musik. Da wurde schon mal geblödelt, da gab sich Timo Kämärainen auch schon mal als Privatmensch zu erkennen. Das sollte vermutlich für das ganze Spiel gelten, denn Regisseur Smeds gab sich zu Beginn vom Rang herab zu erkennen und wünschte gute Unterhaltung. Das kennt man vom ruhmlastigen und traditionsreichen deutschen Theater, die Münchner Kammerspiele inbegriffen, nicht. Hier werden alle Formen, auch die der Verbeugungsordnung, noch ernsthaft zelebriert als Bestandteil des Theaterabends. Um einen Einstiegs in „Der imaginäre sibirische Zirkus des Rodion Raskolnikow“ zu finden, sollte man sich auf das Anarchische, das sich von Anfang an in der Inszenierung findet, vorbehaltlos einlassen. Dann wird man, trotz einiger schmerzlicher Längen mit Eindrücken aus dem Theater gehen, die so bislang selten waren.

 
 
Wolf Banitzki

 


UA Der imaginäre sibirische Zirkus des Rodion Raskolnikow

von Kristian Smeds nach F. M. Dostojewski

 

Hannu Pekka Björkmann, Katja Bürkle, André Jung, Timo Kämärainen, Annamaria Lang, Edmund Telgenkämper, Juhan Ulfsak

Regie: Kristian Smeds

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