Werkraum Kaspar Häuser Meer von Felicia Zeller


 

 

 
Nicht nicht helfen ist nicht dasselbe wie helfen

Sozialarbeiter Björn ist ausgefallen, zusammengebrochen. Björnout! Haha! Seine 104 (akuten) Fälle von Kindeswohlgefährdung werden auf die Kolleginnen Barbara, Silvia und Anika verteilt. Was soll's, dreißig mehr oder weniger spielt längst keine Rolle mehr. (In Bremen kamen 2005 auf 3 Sozialarbeiter ca. 620 Mündel.) Es verwundert die drei Damen auch nicht, als sie von der Sozialfront erfahren, dass Björns Stelle vorerst unbesetzt bleibt.
Worum geht es denn eigentlich? Es geht darum, die Fälle im Auge zu behalten, den Verwaltungsaufwand und vor allem die Kosten im Rahmen der Vorgaben zu halten und den Eindruck zu erwecken, dass Sozialarbeit geleistet wird. Wenn es denn "ganz unerwartet" doch zur Katastrophe kommt, ist gut versichert, wer die entsprechenden Notizen im Protokoll hat.

Das klingt zynisch. Ist es auch. Doch nicht die Texte von Felicia Zeller, sprachgewaltig und entlarvend, sind es und schon gar nicht die streckenweise irrsinnig komischen Umsetzungen der drei Darsteller Lasse Myhr, Steven Scharf und Sebastian Weber, sondern die Realität ist es. Was in Deutschland in den 70er Jahren eine Vorzeigeeinrichtung war, ist inzwischen zu einem fadenscheinigen Feigenblatt der Politik verkommen. Sozialhelfer sind zu Feuerwehrleuten umfunktioniert und wenn es ihnen nicht gelingt, beispielsweise eine Kindstötung rechtzeitig zu verhindern, dann sind sie auch noch die Buhmänner- und frauen für die Medien. Es geht so leicht über die Lippen, dass Beamte und Sesselfurzer in den Ämtern faule, überbezahlte und ignorante Figuren sind. Die Medien erbringen mit plakativer, die Emotionen der lüsternen Leser ansprechende Berichterstattung immer wieder den Beweis.
 

Lasse Myhr, Steven Scharf, Sebastian Weber

© Andreas Pohlmann

 

Felicia Zeller, Autorin von "Kaspar Häuser Meer" lebt z.Z. in Berlin-Neukölln. Wenn sie das Thema soziale Brennpunkte und Sozialarbeit aufgreift, kann man ihr kaum unterstellen, sie wüsste nicht, worüber sie schreibt. Die Rütli-Schule befindet sich in diesem Stadtbezirk. Auch was ihr Bild von den Damen im Amt betrifft, so versucht sie denen keineswegs ein Denkmal zu setzen. Die ausgefeilte Sprachgestaltung beweist zweierlei: Die Damen agieren in einem Apparat, der kafkaesker kaum sein könnte, und sie sind auch Menschen mit Schwächen und Stärken. Die Damen unterhalten sich in Codes und Abkürzungen. Dass in den halbausgesprochenen Sätzen insbesondere die Verben auf der Strecke bleiben, hat nicht zuletzt auch etwas damit zu tun, dass hier vornehmlich geredet, notiert, protokolliert, "blattiert", diskutiert, debattiert und weniger gehandelt wird. Handeln kostet Geld. "Kostenübernahme" ist der bürokratische Terminus. Das heißt, wenn irgendwo ein Kind klammheimlich auf einer stinkenden, mit Fäkalien überzogenen Matratze leise wimmernd, weil ihm die Kraft zum Schrei fehlt, wie ein weidwundes Tier verreckt, muss die Kostenübernahme geklärt sein, um es aus dem Elend zu befreien. Kosten müssen bilanziert werden und in "Zeiten knapper werdender Kassen" passiert es schon einmal, dass die Hilfeleistungen für akut gefährdete Kinder halbiert wird. (Siehe Programmheft - Unbedingt zur Lektüre empfohlen, wenn man sich einen Tag richtig vermiesen will.)

Nein, es handelt sich hier keineswegs um ein soziales System, das den Menschen helfend beisteht, sondern um ein ökonomisch gesteuertes, das Menschen, die dringend Hilfe brauchen, verwaltet, um Schlimmstes zu verhindern. Inzwischen reichen aber die Mittel nicht mehr aus, um die "Überwachung" des Elends zu gewährleisten. "Es war doch keine Absicht! Ich wollte doch nicht nicht helfen!" Dieser Satz aus dem Stück zeigt das Dilemma in seinem ganzen Umfang auf. Die doppelte Negation dominiert.

Es stellt sich die Frage, ob sich so eine Geschichte für das Theater eignet? Vor zwanzig Jahren erhoben die altbundesdeutschen Theatermacher den DDR-Theatermachern gegenüber den Vorwurf, sie handelten tagespolitische Themen auf der Bühne ab, die eigentlich größeren Themen vorbehalten bleiben sollte. Der Grund dafür war, dass das Theater mehr Möglichkeiten bot als die Medien, die unter SED-Kontrolle standen. Wenn dieses Phänomen heute im vereinigten Deutschland wieder auftaucht, so aus denselben Gründen. Die Medien kommen ihren Pflichten nicht mehr in ausreichendem Maße nach. Kindstötung bringt nur noch Quote, insbesondere, wenn man die Monster auf die Titelseite knallen und gleich noch ein paar Politiker und Beamte abservieren kann. Ursachenforschung und Lösungssuche, zu denen Medien beitragen sollten, sind kein Thema mehr.

Es gibt aber noch ein anderes und wohl wichtigeres Kriterium, ob ein Thema auf die Bühne sollte oder nicht. Es ist die Frage nach der künstlerischen Umsetzung. Die Inszenierung von Lars-Ole Walburg rechtfertigt den Schritt auf die Bühne unbedingt. Hier wird nicht ideologisiert; hier wird nicht mit billigen Schuldzuweisungen hantiert; hier wird exzellentes Schauspiel geboten, das mehr bewirkt als jeder noch so spektakuläre Zeitungsartikel. Walburg hat die Rollen der Damen mit männlichen Schauspielern besetzt, wodurch das Frauenspezifische dieser Schicht im Apparat überdeutlich betont wurde. Es ist keine billige Travestie, obgleich es ungeheuer lustig zur Sache geht. Dabei ist es nicht das heitere Lachen über die Komik der Figuren, sondern über das Kafkaeske der Situationen. (Prallelen zu Andreas Kriegenburgs "Prozess" im Schauspielhaus drängen sich auf.) Es geht um nichts Geringeres als Kindstötung, Zusammenbruch von verantwortungsbewussten Sozialamtsmitarbeitern und um Suizid.

Die drei Darsteller spielten mit höchster Intensität, sprachen Texte, die bisweilen das Blut in den Adern gefrieren ließen und gaben nichts anderes wieder als die Realität. Katrin Krumbein hatte die Bühne lediglich mit drei fahrbaren Schreibtischen, einer übergroßen, das Spiel verhöhnenden Bambifigur und einem Betonmischer ausgestattet. Letzterer suggerierte mit Merkzetteln beklebt eine nie endende Baustelle.
Obgleich das Stück keinem Erzählstrang folgte, schälten sich bald die Charaktere heraus. Steven Scharfs Barbara war unentwegt auf der Flucht vor den unerfüllbaren Forderungen des Amtes. Lasse Myhrs Anika kämpfte durchgängig mit den Problemen der Vernachlässigung des eigenen Kindes. Auch sie war überfordert wie die meisten der Eltern, denen sie die Vormundschaft entzogen hatten. Und Sebastian Webers Silvia stand längst am Abgrund, alkoholselig und todessüchtig. Jedes menschliche Engagement und Gefühl war lebensgefährlich. Drei exzellente Schauspieler zeigten brillantes Ensemblespiel.

Die Inszenierung wollte weder beweisen, dass das Sozialamt versagt, noch dass die zunehmende Asozialität insbesondere in den unteren Schichten unbeherrschbar geworden ist. Der Theaterabend hinterließ beim Betrachter das bohrende Gefühl, dass das System untauglich ist, die Probleme zu bewältigen. Dominierend war die absolute Abwesenheit von Hoffnung.

Nach der Vorstellung kam im Autoradio die Meldung, dass in den Wäldern um Cleveland Zeltstädte entstehen, wo die Menschen hausen, denen man ihr Heim genommen hatte. Die nächste Runde ist eingeläutet.

 

Wolf Banitzki

 

 

 

 

Kaspar Häuser Meer

von Felicia Zeller

 

Lasse Myhr, Steven Scharf, Sebastian Weber

Regie: Lars-Ole Walburg
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