Residenztheater Candide von Voltaire


 

 

Kohl statt Aufbegehren

Positiv denken ist seit langem schon die Devise! Wenn um uns herum die Finanzmärkte von Pleitentsunamis heimgesucht werden, Politik eine „Nach-mir-die-Sintflut“- Mentalität pflegt, kleine Gruppen von verblendeten Ideologen mordend durch das Land ziehen, Astrologen, Esoteriker und Parteienpolitiker Triumphe feiern, weil Bürger ihnen in ihrer Orientierungslosigkeit folgen wie den Rattenfängern, wenn kaum jemand noch weiß, ob er trotz Renteneinzahlungen und Vorsorgeversicherungen eine wirtschaftliche Stabilität bis zu seinem Lebensende erwerten kann, dann heißt es positiv denken. Gottlob gibt es ja die Angst, ein menschliches Grundgefühl und gleichsam ein Instrument. Der Angst ist es zu verdanken, dass Schönredner und Berufsoptimisten der Bevölkerung glaubhaft versichern können, sie leben in der „besten aller Welten“, obgleich es im Gebälk knirscht und der Staub bereits von der Decke rieselt. Veränderungen oder gar Aufbegehren ist nicht in Sicht. Man weiß, was man hat, und wenn es noch so lausig ist, sollte man es nicht aufs Spiel setzen.

Kurz zur Entstehungsgeschichte des philosophischen Optimismus (Aus dem Lateinischen abgeleitet von optimum, „das Beste“.): G. W. Leibniz versuchte seinen Zeitgenossen 1710 in seiner „Theodizee“ (übersetzt: Rechtfertigung Gottes) zu erklären, dass Gott in seiner Allmacht und Güte nur die „bestmögliche aller Welten“ erschaffen konnte. Dieser Versuch ist, so man nicht blind, taub und blöd ist, natürlich zum Scheitern verurteilt. Voltaire begriff das in letzter Konsequenz spätestens nach der Lektüre über die Ereignisse des 1. Novembers 1755 in Lissabon. An diesem Tag wurde die portugiesische Stadt von einem verheerenden Erdbeben heimgesucht, das mindestes 30.000 Menschen das Leben kostete. Als polemische Erwiderung auf Leibniz und dessen Anhänger schrieb er seinen 1759 erschienene satirischen Roman „Candide“.

Der naiver Held Candide (der Treuherzige, auch Arglose) wird vom Anwesen des westfälischen Barons Hans Jost Kurt (von Donnerstrunkshausen) von „Thunder-ten-tronckh“ verwiesen, nachdem er mit der Tochter des Barons, Cunégonde, im flagranti ertappt wurde. Diese „Vertreibung aus dem Paradies“ gestaltet sich für Candide sehr schmerzlich, denn zuvor hatte er beim Hofmeister Magister Pangloss (frei übersetzt aus dem Altgriechischen: „Allessprecher“) eine Einführung in den Optimismus erhalten. „Der junge Kandide schluckte jegliche seiner Lehren mit der Treuherzigkeit hinter, die seinem Alter und Charakter gemäß war.“ In den nachfolgenden Abenteuern und Reisen muss Candide allerdings bald erkennen, dass sich die Welt als alles andere, nur nicht als „die beste“ aller entpuppt. Der Optimismus wird zwar ad absurdum geführt, jedoch wenigstens nicht gänzlich verraten. Am Ende heißt es in dem kleinen selbstgewählten Refugium, dass man einen „kleinen Garten“ bestellen wolle. Das hieß: Kohl statt Aufbegehren.

Die Reisen Candides und seines Begleiters Cacambo, den er auf seiner Flucht in Cádiz trifft, ähneln denen Gullivers. Sie führen ihn über einen Kriegsschauplatz, auf dem über zahllosen Toten ein Tedeum wabert, nach Lissabon, wo er das grauenvolle Erdbeben erlebt. Er wird gemeinsam mit Pangloss, der (vermeintlich ketzerisch) geredet, während Candide (verdächtig) zugehört hatte, aufgehängt und ausgepeitscht, um Gott zu besänftigen. Unmittelbar nach der Tortur gab es ein kräftiges Nachbeben. Auf der Flucht vor der Inquisition gelangt Candide nach Paraguay in des sagenumwobene El Dorado, einem utopischen Ort, wo Toleranz, Wohlstand und Glück Realität sind. Es ist ein idealer Ort. Doch Candide zieht es fort. Er glaubt, sein Glück nur in der Gemeinschaft mit Cunégonde finden zu können. Auf der Suche nach ihr kehrt er nach Europa zurück. Er begegnet Martin, einem pessimistischen Philosophen, der eher an den Teufel, denn an Gott glaubt und der davon überzeugt ist, das Zufall, Unglück und Bosheit die treibenden Faktoren im Leben der Menschen sind. In Konstantinopel findet er Cunégonde wieder. Sie ist auf das grausamste verstümmelt und von garstiger Natur. Candide heiratet sie widerwillig („Vorher pflog er mit Panglosen, Martinen und Kakambo'n geheimen Rat.“) und alle zusammen ziehen sich auf ein Landgut zurück. Das Leben geht weiter und sie erkennen: „Il faut cultiver notre jardin“. („Unser Garten muss gepflegt werden“)
 
  candide  
 

Michele Cuciuffo, Sebastian Blomberg, Hanna Scheibe

© Thomas Dashuber

 
 
Den letzten Satz nahm Bühnenbildnerin Sabine Kohlstedt wörtlich und ließ aus dem Bühnenboden eine Vielzahl von Gartengeräten (in Kinderspielzeugformat) auf die leere, von einer halbkreisförmigen Leinwand begrenzten Bühne herabschweben. Regisseurin Friederike Heller inszenierte einen Spielreigen, in dem Livemusik (Peter Thiessen und Sebastian Vogel) eine Schlüsselrolle spielte. Sie strukturierte und kommentierte lebhaft den Fortgang der Geschichte. Die Spielfassung basierte auf dem von W. C. S. Mylius übersetzten Originaltext von Voltaire, also auf einen Prosatext, der über weite Teile wortwörtlich übernommen wurde. Folglich handelt es sich überwiegend um reflexive Berichte, was eine wirkliche Bühnendramatik per se ausschloss. (Prosaadaptionen sind scheinbar mehr denn je in Mode!) Immerhin ist die Votaire’sche Sprache, insbesondere die darin enthaltenen satirischen Brechungen, unterhaltsam genug, um ein lustvolles und augenzwinkerndes Spiel zu gestalten.

Friederike Heller erzählte die Geschichte nicht gänzlich. Nach etwa einer und einer Viertel Stunde beschränkten sich die Darsteller darauf, das Ende mit wenigen Worten zu umreißen, damit ‚der Abend nicht so lang werde’. Obgleich diese Entscheidung gut war, denn Längen wären unausbleiblich gewesen, hatte es etwas von einem coitus interruptus. Die befruchtende Quintessenz blieb aus und das lakonische Fazit der Selbstbeschränkung erinnerte sehr an Mörikes „Gebet“: „Wollest mit Freuden / Und wollest mit Leiden / Mich nicht überschütten! / Doch in der Mitten / Liegt holdes Bescheiden.“ Naturgemäß blieb die Inszenierung im Residenztheater weit hinter dem philosophischen Anspruch, der sich häufig über den Subtext vermittelt, und der philosophiegeschichtlichen Komplexität der Vorlage zurück. Zudem: Voltaire zu zitieren, mag angehen, sich seinen Urteilen mehr oder weniger anzuschließen reicht allerdings nicht unbedingt aus.

Es gibt zwei gute und hinreichende Gründe, diese Inszenierung anzuschauen. Der erste resultiert aus der Aktualität des Themas. Langsam wird der Neopositivismus, den diese Gesellschaft recht blauäugig praktiziert, zu einer existenziellen Bedrohung. Folglich kann es nicht schaden, sich mit diesem Thema auseinander zu setzen. Der zweite Grund ist die artifizielle Umsetzung des Themas und die Leistung der Darsteller, allen voran Sebastian Blomberg als leicht vertrottelter, naiver Candide und Michele Cuciuffo als eitler, gespreizter Statthalter von Buenos-Aires, Don Fernando. Jörg Ratjen war, was seine Rolle des Pangloss betraf, ein wenig im Vorteil. Die z.T. blödsinnigen Schlüsse, die der Magister aus seiner optimistischen Philosophie zog, verlangten geradezu nach besonderer mimischer Umsetzung. Ratjen verschenkte nichts.  

Obgleich die Diktion von Voltaire alles andere als gefällig ist, gab es eine Vielzahl kurzweiliger Szene, in denen der brillante Geist des Enzyklopädisten und Aufklärers zumeist im satirischen Gewand aufblitzte. Es wird heutigentags nicht selten die Auffassung vertreten, dass die Aufklärung gescheitert sei. Die Inszenierung von Friederike Heller verweist darauf, dass sie notwendigerweise weitergehen muss. Es blieb allerdings auch die unbehagliche Ahnung zurück, dass sie nach zweihundert Jahren erst ganz am Anfang steht.

Wolf Banitzki

 

 

 


Candide

von Voltaire

Sebastian Blomberg, Michele Cuciuffo, Jörg Ratjen, Hanna Scheibe, Elisabeth Schwarz

Regie: Friederike Heller
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