Residenztheater Gyges und sein Ring von Friedrich Hebbel


 


Toleranz oder Es lebe der Schleier?

Die Geschichte von „Gyges und sein Ring“ geht auf eine Überlieferung von Herodot zurück und wurde von Plato in seiner „Politeia“ wiedergegeben: „Und so, mein lieber Glaukon (Bruder Platons – W.B.), ist denn dieser Mythos erhalten worden und ist nicht untergegangen, und er wird vielleicht auch unsere Seelen retten, wenn wir ihm nämlich folgen…“ Ursprünglicher Kern der Geschichte war die Beschreibung der Tötung des Lyderkönigs Kandaules durch den Griechen Gyges, in diesem Mythos ein einfacher Hirt, und seiner Machtergreifung vermittels eines magischen Rings. Didaktischer Ansatz der Erzählung war, nachzuweisen, dass der Mensch von Natur aus zu unmoralischen Handlungen neigt. Er wird sich immer unmoralisch verhalten, so lange keine Strafe droht, was im Umkehrschluss bedeutet, dass Recht nur aus dem Unvermögen resultiert, Unrecht zu begehen. Platos Interpretation führte zu dem Schluss, dass Gyges, wenn er durch die Kraft des Rings zum Tyrannen avanciert, nicht glücklich sein kann. Unrecht beschädigt die Seele des Menschen, und die ist das Wichtigste, was er besitzt. Soviel zum unverfälschten Mythos.

Friedrich Hebbel, 1813 geboren, schrieb das Drama „Gyges und sein Ring“ im Jahr 1854. Sein Ansatz war ein gänzlich anderer. Hebbel gestaltet das Thema eine Nummer kleiner. Er beschreibt König Kandaules als einen Mann, dem es zusehends schwerer fällt, die alten, unglaubwürdigen Konventionen aufrecht zu erhalten. Er ist Nachfahre des großen Herakles und ein Modernisierer. Mit seinem radikalen Verhalten, die Insignien der Macht nicht zu tragen, zieht er den Unmut der Bürgerschaft auf sich. „Hier gilt der König / Nur seiner Krone wegen und die Krone / Des Rostes wegen. Weh dem, der sie scheuert, / Je blanker, um so leichter an Gewicht.“ Letztlich gelingt es ihm, eine Staatskrise zu verhindern. Die Tragödie lauert im Privaten. Seine Gemahlin, Rhodope, entstammt einem Kulturkreis, in dem es einer Frau verboten ist, ihr Antlitz mehr als zwei Männern zu zeigen, dem Vater und dem Ehemann. Rhodope nimmt weder an höfischen Festivitäten teil, noch zeigt sie sich unverschleiert.

Königs Kandaules nennt den Griechen Gyges seinen Freund. Gyges hatte den mythischen König einst mit einem gezielten Pfeil vor einer wilden Raubkatze errettet. So verbindet beide ein fast blutsbrüderliches Band. Kandaules pflegt einen völlig offenen Umgang mit Gyges, teilt ihm alle seine Sorgen und Nöte mit. Gyges fühlt sich dem Freund so sehr verbunden, dass er ihm ein Geschenk macht, welches mit irdischen Gütern nicht aufzuwiegen ist, einen Zauberring. Mit diesem Ring kann sich sein Träger unsichtbar machen, was ihm ungeheure Macht verleiht und ungeahnte Möglichkeiten eröffnet.  

Die Handlung des Dramas erstreckt sich über zwei Tage. Es beginnt mit den Vorbereitungen zu Spielen, an denen Gyges teilnehmen möchte. Kandaules warnt den Freund, denn der ist Grieche und nicht sonderlich beliebt bei den Lydern. Er fürchtet um das Leben des Freundes; er kennt seine Landsleute. Doch Gyges überragt die Lyder und erringt sämtlichen Lorbeer. Am Abend, die Gesellschaft ist in Weinseligkeit gefallen, erklärt der König seinem griechischen Freund, wie sehr er darunter leidet, sein eheliches Glück nicht offen zeigen zu können: „Ich brauche einen Zeugen, dass ich nicht / Ein eitler Tor bin, der sich selbst belügt, / Wenn er sich rühmt, das schönste Weib zu küssen, / Und dazu wähl ich dich.“ Durch den Ring, den er vom König zurückerhält, gelingt es Gyges, mit in das Schlafgemach zu schlüpfen und einen Blick auf die sagenhafte Schönheit Rhodopes zu werfen. Er verliebt sich in sie.

Am nächsten Tag erscheint Rhodope unverschleiert, denn sie ist sich sicher, dass sie des Nachts von einem unbekannten Mann gesehen worden war. Sie stellt ihren Gatten zur Rede. Seine Pflicht ist es, den Frevel zu sühnen, den Unhold zu töten. Kandaules glaubt nicht an derartige schicksalhafte Pflichten: „Was steckt denn auch / In Schleiern, Kronen oder rost’gen Schwertern / Das ewig wäre?“ Doch Rhodope besteht darauf. Als sie erfährt, dass Gyges Hals über Kopf den Hof verlassen will, sieht sie ihre Annahme bestätigt und der Frevel hat einen Namen. Gyges, sich seiner Schandtat bewusst, fordert den König auf, ihn zu töten, wie es dessen Pflicht ist. Doch der aufgeklärte Mann lehnt ab. Schließlich will sich Gyges für den König selbst entleiben. Auch dieses Angebot findet keinen Anklang.

Von nun an nimmt Rhodope das Heft in die Hand. Sie erklärt dem ungläubigen Gyges, dass er sterben muss: „Glaubst du vielleicht, es sei nicht bittrer Ernst, / Weil dir ein Weib den blut’gen Spruch verkündet, / … / O hoffe nicht, dass auch die Mildeste / Ihn ändern wird. Sie kann den Mord vergeben, / Sie kann sogar für ihren Mörder bitten, / Wenn er ihr so viel Odem übrigließ. / Doch eine Schande, die sie vor sich selbst / Vom Wirbel bis zum Zeh mit Abscheu füllte, / Solch eine Schande wäscht das Blut nur ab / … „ Als sie jedoch erfährt, dass ihr Mann die Tat mit Vorsatz beging und sie anschließend belog, erklärt sie Gyges, dass er ihren Gemahl töten muss. Sie verspricht, ihn anschließend zu ehelichen, womit die Ordnung wieder hergestellt wäre.
 
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Werner Wölbern, Britta Hammelstein, Stefan Konarske

© Tibor Bozi

 

Die Tiroler Regisseurin Nora Schlocker, Jahrgang 1983, setzte nun das sehr selten gespielte Stück auf der Bühne des Residenztheaters in Szene. Die bisherigen Ausführungen zum Stück waren so umfangreich, damit sich der Leser selbst einen Eindruck vom Inhalt machen kann. Schließlich steht die Frage, warum man gerade ein solches Stück, „in dem der Widerspruch zwischen Moderne und Tradition, Transparenz und Geheimnis unaufgelöst bleibt“ (Werbung Residenztheater), hier und heute auf die Bühne bringt, obenan. Zugegeben, an diesem Punkt kommt Ratlosigkeit auf. Im Zweifelsfall bleibt immer noch, das Programmheft zu befragen, denn dort findet sich zumeist die Lesart von Regie/Dramaturgie publikumsfreundlich aufbereitet wieder. Erstaunlicherweise dreht es sich in der vorliegenden Lesart weniger um das Thema Moderne und Tradition, auch nicht um Freundschaft und Verrat, und erst recht nicht um Liebe, sondern um metaphysische Betrachtungen zum „Entschleiern“ im weitesten Sinn.

Dazu wird aus einer Schrift zitiert, die den Titel trägt: „Der Schleier als Symptom des liberalen Subjekts. Zur Identifizierung des Unidentifizierbaren“. Pardon, aber glaubt wirklich irgendwer, dass eine Schrift mit einem derartigen Titel zur Wahrheitsfindung auf der Theaterbühne beitragen kann? Die Zitate von Noah Holtwiesche und Andrea Wald geben zudem eine unselige Steilvorlage für die „politisch korrekte, multikulturelle“ Betrachtung des Themas Freiheit in unserer ach so liberalen Welt: „Das Phantasma der liberalen Öffentlichkeit besteht in dem blinden Glauben, alles sehen zu können, wenn es nur offen genug daliegt – Wahrheit entfaltet sich im Offenen. (…) Durch die Beziehung dieser von Ver- und Entschleierung auf das Motiv Freiheit lässt sich verstehen, warum eine Frau, die ihr Gesicht oder Haar unter einem Schleier verbirgt, auf der Bühne der liberalen Öffentlichkeit nur als Skandalon auftreten kann.“ Ja natürlich, und zu Recht, denn diese Frau betrachtet einen Atheisten, so sie aus religiösen Gründen verschleiert ist, also Muslimin ist, als verdammungswürdig, ja sogar vernichtungswürdig. (Es ist höchste Zeit, den Koran zu lesen. Unwissenheit schützt von Allahs Strafe nicht!) Es ist ebenso höchste Zeit, sich dem Thema auf philosophischer Ebene zu stellen, um zu weltanschaulich tradierten Argumenten zu kommen und nicht im vorauseilenden Kniefall vor der Gnostik zu verharren. Man kann Toleranz auch zur Hure machen. Wir, die aufgeklärten Mitteleuropäer haben das Recht, unser Aufgeklärtsein argumentativ zu vertreten.

Es war schon traurig genug, dass man die vorliegende Tragödie auf die im Stück zwar innewohnende, doch eher marginale Aussage einköchelte. Noch trauriger war es allerdings, dass man sich dann nicht dazu verhielt. Wer - wie Nora Schlocker - in eine so qualifizierte Stellung gelangt, seine/ihre Botschaft zu propagieren, sollte eine deutlichere Botschaft haben. Das Letzte, was das Theater im Moment braucht, ist ein weiteres fruchtloses Diskussionsangebot zum Thema Verschleierung. Zumal, wenn, wie in dieser Inszenierung geschehen, der „Ehrenmord“ unwidersprochen stattfinden kann. Darauf läuft es leider zwangsläufig und unmissverständlich hinaus. Die Inszenierung lässt diesen fatalen Schluss allemal zu. Frau Schlocker hat jedenfalls nicht Flagge gezeigt mit einer deutlichen Interpretation.

Dabei war alles bestens gerichtet. Jessica Rockstrohs Bühnenbild beeindruckte. Ein Halbrund auf der Drehbühne verschloss den Lebensraum Rhodopes hermetisch gegen jeden Blick, wenn die bis an die Oberkante des Bühnenportals reichende Mauer dem Publikum zugewandt war. Gedreht, öffnete sich ein großer, aber dennoch intim wirkender Raum mit nach hinten aufsteigendem Fußboden. Das halboffene Rondell war Innenraum und Garten zugleich. Im Verlauf der Handlung (nach dem Sündenfall) krachte ein zersägter Apfelbaum aus dem Bühnenboden herab. Ein paar Stühle, die an der Rückwand aufgestapelt wurden, bezeichneten den Versuch der Dienerschaft, die hohe Mauer zu überwinden, Freiheit zu erlangen. Die Kostüme von Caroline Rössle-Harper waren der nüchternen Symbolik sensibel angepasst.

Werner Wölberns König Kandaules erfüllte bestens alle Anforderungen, die Figur glaubhaft und unangefochten erscheinen zu lassen. Wölbern spielte nicht nur den Souverän, er war es auch. Britta Hammelstein entgegnet ihm in ihrer Rolle der Rhodope auf Augenhöhe, zumindest nach der Entschleierung. Ihre Dominanz, ihr unbeugsamer Wille, Recht walten zu lassen, taten ihrer begehrenswerten Erscheinung, und die wurde permanent verhandelt, keinen Abbruch. Friederike Ott und Katrin Röver füllten als Dienerinnen Lesbia und Hero die emotionalen Räume neben den großen Konflikten mit der gebotenen Zurückhaltung, die ihren Rollen eigen war. Paul Wolff-Plottegg gab einen Diener Thoas, der fast auf gleichem Level wie die Protagonisten agierte. Er, der „nicht der schnellste Denker“ war, verkörperte mit Anflügen von Kleinmut die Empfindungen des Volkes und demonstrierte zugleich seine uneingeschränkte Loyalität zum Königshaus. Zumindest war seine innere Zerrissenheit und Qual häufig glaubhafter, weil maßvoller als die von Stefan Konarske als Gyges. Der spielte beinahe von Anfang an einen nervigen, unter nicht nachvollziehbarer Hochspannung stehenden Mann. So gab es kaum sinnfällige Möglichkeiten der Steigerung. Und als diese dann doch geschah, nahm die Figur im letzten Drittel psychotische Züge an. Warum, fragte man sich? Er war ein souveräner Mann, Grieche, frei, an der Seite des Königs und sein Günstling. Niemand konnte ihm im Umgang mit der Waffe das Wasser reichen, nicht einmal Kandaules. Obgleich diese Figur in der Literatur mythischen Charakter trägt, war sie eine historisch belegte. Immerhin regierte Gyges das kleinasiatische Land von 680 – 644 v.Ch. Er begründete das Geschlecht der Mermnaden, das in der fünften Generation mit dem sagenumwobenen König Krösus unterging.

Der Applaus des Publikums brachte letztlich zum Ausdruck, dass kaum jemand wusste, warum er diese Tragödie eigentlich gesehen hatte. Eine deutliche, verbindliche Botschaft blieb weitestgehend im Dunkel. Die ästhetische Umsetzung und das Spiel der Darsteller hingegen überzeugten. So wurde unaufgeregt geklatscht und den Darstellern für ihr weitestgehend sehenswertes Spiel gedankt. Schade.

 
Wolf Banitzki

 

 


Gyges und sein Ring

von Friedrich Hebbel

Britta Hammelstein, Stefan Konarske, Friederike Ott, Katrin Röver, Werner Wölbern, Paul Wolff-Plottegg

Regie: Nora Schlocker
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