Marstall Satt von Marianna Salzmann


 

 

Was ist nur los mit euch?

Goscha ist satt, hat es satt! Sie, das Einwandererkind, leidet unter der Saturiertheit deutscher Wirklichkeit, in der alles ausgepreist ist, in der menschliche Wärme kaum mehr wahrnehmbar ist. Sie will aussteigen aus dem Lebensprogramm, für das es keine wirkliche Rechtfertigung mehr gibt. Als Einwanderin aus Russland, gemeinsam mit der Mutter Larissa und Schwester Susanna, misslang es zumindest den Töchtern, sich zu integrieren, anzukommen. Für die Mutter, als Medizinerin wegen ihrer Herkunft gemobbt, gab es nur harte Arbeit, um den Töchtern ein menschenwürdiges Leben zu bieten. Doch die sehen es nicht als ein solches. Susanne tritt die Flucht ins Internet an. Goscha wählt den Weg des Aufbegehrens, geht gemeinsam mit Stef, ebenfalls ein Aussteiger, ihren Weg bis an den Rand der Legalität. Alle scheitern letztendlich.

Viele Realitäten fanden Eingang in das Stück von Marianna Salzmann, Jahrgang 1985, geboren in Wolgograd und aufgewachsen in Moskau. Zweifellos kann die junge Autorin auf Selbsterlebtes zurückgreifen. Aber es sind zu viele Realitäten, was darauf schließen lässt, dass es sich bei dem Stück um ein Konstrukt handelt, gemäß den Leitlinien des „Szenischen Schreibens“, das sie seit 2008 an der Universität der Künste Berlin studiert. Ausländerfeindlichkeit, Unmöglichkeit einer wirklichen Integration, Mobbing von Ausländern, Überflussgesellschaft, gestörte Kindheit (Vater war Alkoholiker), Zynischer Umgang der Gesellschaft mit dem Lebensnotwendigen, Mangel an Solidarität, Werteverfall, Spießertum, Opportunismus, Horror des und im Cyberspace und das finale Selbstmordattentat, alles das findet sich in eineinhalb Stunden Theater.

Ein Narr, wer glaubt, er bekomme auch nur eine Antwort auf die Endlosreihe von Fragen. Hinzu kommt, dass viel über Sprache geredet, geschwatzt, gefachsimpelt wird, ohne dass die Sprache der Autorin einen künstlerischen Rang erobern kann. Einmal mehr wird die Schwäche „junger Dramatik“ deutlich. Der Beruf des Dramatikers ist inzwischen ein Job wie jeder andere, besondere Momente des Berufenseins scheinen überflüssig. Alles Nötige ist erlernbar. Und, was viel bemerkenswerter ist, tradierte Lebenserfahrungen scheinen überflüssig zu sein. Befindlichkeiten gerinnen zu dramatischen Konstrukten und reizen. Das Mediale, und Theater gehört dazu, hat sich zu einem Moloch aufgeblasen. Die Protagonisten, Dichter und andere Künstler, sind nicht mehr Mittelpunkt, sondern Vollzugbeamte. Frau Salzmann hat, sicher ohne sich dessen bewusst zu sein, ihre Rolle darin gefunden, liefert, was Theater, das längst aufgegeben zu haben scheint, eine „moralische Anstalt“ zu sein, für seinen Fortbestand benötigt: Texte. Texte, die Realität widerspiegeln, ohne über diese hinauszugelangen. Werke, im Sinn von bewusstseinsändernden Entwürfen mit künstlerischer Ästhetik, bedarf es scheinbar nicht mehr.

 
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Dennis Herrmann, Sophie Rogall

© Thomas Dashuber

 

Die größte Tugend des dramatischen Konstrukts ist die Wut, die wohl sehr authentisch direkt aus der Feder einer jungen, aufgeregten Autorin floss, und die auf der Bühne des Marstalls zum aufbegehrenden Gestus wurde. Thimo Plath beließ die Bühne in voller Größe. Darüber schwebte eine absenkbare netzbespannte Zwischendecke, die Wand oder Container wurde. Am Ende war dieses Element Verkörperung einer überirdischen Ebene, ein Himmel, der die zerstörten Mädchen aufnahm. Ein Flügel, mit Häkelborten und Familienbildchen behängt,  stellte die Wohnung der Mutter vor. Anstelle von Bühnenbild war ein Spielfeld entworfen worden, auf dem Regisseurin Stefanie Bauerochse ein dynamisches, bis an die Atemlosigkeit gehendes Spiel inszenierte. Beatrix Doderer fiel die Rolle der Mutter Larissa zu. Abgesehen von einer Szene, in der blanke Verzweifelung darüber ausbrach, dass ihr das tiefere Verständnis für die Kinder fehlte, blieb ihre Rolle farblos. Die Autorin hatte sie mit so dünnen Texten ausgestattet, dass sie über Stichwortgeberei kaum hinausgelangte.

Die drei jungen Darsteller hingegen lieferten ein Feuerwerk an Gefühlsausbrüchen und artistischer Körperlichkeit. Sophie Rogall lieferte als Goscha (vermutlich Alter ego der Autorin) eine herausragende Leistung. Der Wechsel von Anmut und Explosivität gelang ihr spielend leicht, ohne dass sie dabei ungenau wurde. Ihr zuzuschauen, war ein wirkliches Vergnügen. Zurückhaltender, jedoch mindestens ebenso intensiv agierte Dennis Herrmann als Stef. Sensibel versuchte er Goscha nahe zu sein, sie zu lieben oder ihr Hilfestellung zu geben in ihrer Sinnsuche. Das gespielte Entsetzen über die Konsequenzen seines Tuns am Ende war von erschütternder Intensität. Anna Kell gab in der Rolle der Susanna ein typisches Kind der Zeit, somnambul dem realen Leben gegenüber, euphorisch in Bezug auf alle virtuellen Vorgänge.

Der Abend war durchaus sehenswert, wenngleich er wenig Substanzielles an die Hand gab. Das natürliche und emphatische Spiel der jungen Darsteller war überaus erfrischend. Leider verließ der Zuschauer das Theater mit einem schalen Nachgeschmack, der sich mit dem letzten Satz der Mutter Larissa erklären lässt: „Was ist nur los mit euch?“ Marianna Salzmann konnte darauf keine verbindliche Antwort geben.

Wolf Banitzki

 

 


Satt

von Marianna Salzmann

Beatrix Doderer, Anna Keil, Sophie Rogall, Dennis Herrmann

Regie: Stefanie Bauerochse
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