Marstall Eyjafjallajökull-Tam-Tam von Helmut Krausser


 


Dem Chaos ausgeliefert

Flughafen auf einer griechischen Insel. Abfughalle. Eine Stimme verkündet, dass aufgrund des Ausbruchs des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull und der damit verbundene Aschebelastung in der Atmosphäre sämtliche Flüge im europäischen Luftraum bis auf weiteres gestrichen sind. 55 Fluggäste sitzen fest, richten sich ein und verhalten sich: naturgemäß auf unterschiedlichste Weise. Man versucht sich vernünftig mit der Situation zu arrangieren; man geht sich auf die Nerven; man ringt um Contenance. Vergeblich, wie sich bald zeigt. Offene Aggression bricht aus. Wahrheiten werden formuliert, von denen man kaum glauben kann, dass sie sich unterdrücken ließen. Letzte Fragen werden gestellt, Fragen, die man im normalen Leben geflissentlich gescheut hat.

Der Strom fällt aus, bald auch alle Handynetze und das Fernsehen. Zweifel kommen auf, ob die Geschichte über den Vulkanausbruch überhaupt wahr ist. Eine Endzeitstimmung macht sich breit. Die Maßnahmen der Flughafenbehörde legen den Schluss nahe. Das Handgepäck der Fluggäste wird nach verborgenen Ressourcen wie Batterien und ähnlichem durchsucht. Ein surreales Szenario läuft ab, erzwungen von Umständen, die scheinbar keinen Ausweg mehr zulassen. Es geht um Schöpfung, um Leben, um Sterben und um Unsterblichkeit.

Helmut Krausser schrieb seinen Text für das gesamte Ensemble des Münchner Residenztheaters. Er erlag deutlich der Versuchung, den denkbar größten Bogen zu schlagen. Die Geschichten, die erzählt werden, und es sind so viele, dass man meinen könnte, alle möglichen Geschichten werden erzählt, sind teilweise alltäglich, jedoch nie banal. Kraussers Sprache reicht von sozial determiniert bis zu literarisch elegant. Im Text sind Sätze, die es verdienen, in Stein gemeißelt zu werden. Am Ende steht der Mythos der Entstehung der Milchstraße. Am Ende steht auch die Ahnung, dass diese Spezies verschwinden wird. Doch bis das geschieht, werden Generationen mit Problemen leben müssen, die wir uns nicht vorstellen können.
 
  eyjadingens  
 

© Jörg Koopmann

 

Kraussers Text an sich ist aufrüttelnd und verstörend. Dass der Name Kafka mehrfach fällt, kommt nicht von ungefähr. Vielleicht war er der einzige Dichter, der die Bedeutung der menschlichen Existenz nahe bringen konnte.

Dem Chaos ausgeliefert waren nicht nur die handelnden Personen im Stück, sondern auch die Zuschauer. Es soll an dieser Stelle nicht auf die einzelnen Episoden eingegangen werden, noch auf die schauspielerischen Leistungen. Von all dem, was vorab angedeutet wurde, erfährt der Theaterbesucher ohnehin so wenig, dass man es fast vernachlässigen könnte. Was im Marstall ablief, hatte mit Theater wenig zu tun. Der Zuschauer wurde in eine Situation gestoßen, die chaotisch war. Sie oder er bekam keinerlei Hinweise, woran man sich halten, noch, worauf man achten sollte. Theater fand auch statt, nur wusste man nicht genau wo, in welcher Reihenfolge und warum. Sehr schnell erlahmte das Interesse und private Unterhaltungen kamen auf, die allerdings nicht aus der Handlung inspiriert waren. Von der erfuhr man wenig und wenn, dann zusammenhangslos. Die eigentlich dreieinhalbstündige Inszenierung (wie im Internet) lief parallel in einer und einer halben Stunde ab, an unterschiedlichen Orten, auf verschiedenen Monitoren. Für den Zuschauer, der nicht wusste, was ihn erwartete, war der Abend ein Desaster, das nicht selten Unmut erzeugte.

Wer sich entschließen sollte, in die Inszenierung von Robert Lehniger in das Theater im Marstall zu gehen, dem sei dringendst geraten, sich die Inszenierung vorab im Internet anzuschauen. Dort allerdings kann er Grandioses erleben: den überaus fesselnden Film zum Stück. (www.residenztheater.de/tamtam)


 
Wolf Banitzki

 

 


Eyjafjallajökull-Tam-Tam

von Helmut Krausser

Stefan Konarske, Jörg Lichtenstein, Tom Radisch, Hanna Scheibe, Marie Seiser und Lukas Turtur sowie Miguel Abrantes Ostrowski, Götz Argus, Jens Atzorn, Bibiana Beglau, Guntram Brattia, Sebastian Blomberg, Sibylle Canonica, Carolin Conrad, Michele Cuciuffo, René Dumont, Gunther Eckes, Thomas Gräßle, Norman Hacker, Britta Hammelstein, Markus Hering, Sophie von Kessel, Felix Klare, Alfred Kleinheinz, Arthur Klemt, Juliane Köhler, Shenja Lacher, Eva Mattes, Barbara Melzl, Birgit Minichmayr, Tobias Moretti, Oliver Nägele, Robert Niemann, Nicholas Ofczarek, Friederike Ott, Franz Pätzold, Gerhard Peilstein, Katharina Pichler, Sierk Radzei, Jörg Ratjen, Katrin Röver, Wolfram Rupperti, Katharina Schmidt, Götz Schulte, Arnulf Schumacher, Elisabeth Schwarz, Michaela Steiger, Jürgen Stössinger, Andrea Wenzl, Ulrike Willenbacher, Paul Wolff-Plottegg, Manfred Zapatka, August Zirner, Johannes Zirner

Regie: Robert Lehniger
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