Theater ... und so fort  UA Bitte zurückbleiben! von Heiko Dietz


 

 


Im Sonderzug durch die Wirklichkeit

 

„Bitte zurückbleiben ... bitte zurückbleiben ... bitte ... bitte ... bitte.“ An diesem Wort, Bitte, blieb das Band der Ansage hängen. Die Zeiger der Bahnhofsuhr standen auf fünf vor zwölf. Sie tun dies täglich zwei Mal und wäre dieses Bild nicht die bekannte, in der Gemeinschaft verbreitete Metapher für einen besorgniserregenden Zustand, so wäre es lediglich ein automatischer Vorgang, an sich bedeutungslos, ebenso bedeutungslos wie das abgenutzte Wort „Bitte“ in den mechanisch freundlichen Floskeln.

 

Auf dem Bahnsteig eines Vorortes harren Menschen der Verbindung zur Stadt. Zwei Bänke, ein Abfalleimer, eine Uhr, dahinter wild wuchernde Natur. Ein Wartender verbringt hier seine Lebenszeit, ein Pärchen verträgt sich und schlägt sich, eine junge Frau öffnet sich einem personifizierten Schatten, eine Therapeutin lauert pflichtbewusst zu Hilfestellung, ein Priester und eine Anwältin sind auf dem Weg zu einem Gerichtstermin. Was aussieht wie die alltägliche Momentaufnahme an einem normalen Bahnhof entpuppt sich als Vorhölle. Die Begegnungen legen nach und nach die Abgründe, Wirklichkeiten frei in denen die Protagonisten gefangen sind. Doch was ist real, was ist fiktiv? Wer ist noch real, wer wirklich? Fährt der nächste Zug nun von Bahnsteig A, oder doch von Bahnsteig B? Der Autor Heiko Dietz verflicht in dem Theaterstück sehr geschickt die Ebenen von verschiedenen Wahrnehmungen und rollt die Geschehnisse gleich einer Zeitschleife vor oder zurück. War der Anfang schon das Ende, oder erst das Ende das Ende? Der Regisseur Heiko Dietz nahm das Publikum mit auf diese Reise, ließ die Uhr rückwärts laufen, spulte im Hintergrund hörbar einen Film. Vor oder zurück? Jedenfalls fesselte er die Aufmerksamkeit und ließ nach und nach ein spannendes Bild erstehen, welches jeder Zuschauer am Ende selbst ins Schwarz der dunklen Bühne projizierte. Mehr sei nicht beschrieben, um der sehenswerten Inszenierung die Dramatik zu erhalten.

 

Das Ensemble bot gleichermaßen ausgewogene künstlerische Darstellung in ausnehmend charakteristischen Figuren. Das Ehepaar Sacha Holzheimer und Christian Buse agierten standesbewusst zwischen Wasser- und Bierflasche, die Therapeutin gab Julia Kunze in jedem Augenblick auftragsorientiert, martialisch undurchschaubar wirkte dagegen der Fremde Sebastian Krawzcynski, klar und ordentlich strukturiert die Anwältin Christa Pillmann. Der Betreuerin Sarah Dorsel war die Überforderung durch den behinderten, realistisch überzeichnenden Florian Weber deutlich anzumerken. Ein vertrauliches Gespräch entwickelten die resignierende Frau Sarah Schuchardt und die abgeklärt erscheinende Noelle Cartier van Dissel. Bodenständig als der Wartende führte Winfried Hübner eine philosophische Grundsatzdiskussion mit dem stets um Vermittlung bemühten Priester Konrad Adams. Dessen Credo: „Man kann nie tiefer fallen als in Gottes Hand.“

 
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Winfried Hübner, Noelle Cartier van Dissel

© Gerald Huber

 

 

Die Hand Gottes hängt manchmal ganz schön tief, oder hängten die, die Glaubenssätze verwaltenden Bürokraten diese unter den natürlichen Abgrund, um dem Gesetz der Schuld noch ausreichend Platz einzuräumen? Die Deklarierung von Schuld, mit deren Hilfe Leid und Drangsal verstärkt, ja geradezu höllentief verfinstert werden können. Als träfen die persönlichen Handlungen wider das eigene Wissen, Gewissen, der Verlust eines nahestehenden, geliebten Menschen nicht schon hart genug, findet auch noch Ächtung statt. Da hilft nur der körperliche Tod. Endstation. Nur er wird als Befreiung missverstanden. Von Erlösung keine Spur, denn die schuldbeladenen Geister treiben sich nach wie vor auf den Bahnhöfen und den Geleisen der Denkmatrix herum, um immer neue „Unfälle“ zu verursachen und sich mit Leidensgenossen zu treffen.

 

Es kann die Aufführung, 2000 Jahre nach der Dogmatisierung der christlichen Gedanken, durchaus als Hinweis verstanden werden, den Platz des Zuschauers einzunehmen und die abgenutzten Glaubenssätze zu erkennen, hinterfragen, überprüfen. Auf den Schienen dieses Denkens in der Zeit hin und her zu reisen, um endlich die Endstation zu verlassen und die Regeln anders zu definieren. Das Stück zeigt, wie verflochten Denken und Handlung der Menschen doch mit den Vorstellungen der Altväter der Kirche sind. In deren Sätzen ist die Erde nach wie vor eine Scheibe mit der Größe eines Tellerrandes und der Andersgläubige das verdammenswerte Böse, welches letztlich nur dazu dient das eigene Gutsein zu bestätigen. Diese Behauptungen könnten „Bitte zurückbleiben!“ in der Vergangenheit, dem Tod des Vergessens anheim fallen, um einer neuen Welt den Weg frei zu machen. Einer Welt jenseits dieser ehernen abgenutzten Denkschienen.

 

Heiko Dietz verfasste „Eine unerfreuliche Komödie“, die in Andeutungen und humorvollen Wendungen ein in sich geschlossenes entlarvendes Sittenbild erstehen ließ. Aufschlussreich und amüsant unterhielt die aktuelle Inszenierung die Mitfahrenden im Theater ... und so fort

 

 

 

C.M.Meier

 

 

 

 


UA Bitte zurückbleiben!

von Heiko Dietz

 

Noelle Cartier van Dissel, Sarah Schuchardt, Heiko Dietz, Konrad Adams, Christa Pillmann, Julia Kunze, Sarah Dorsel/Mira Huber, Florian Weber, Sebastian Krawzcynski, Winfried Hübner, Sacha Holzheimer, Christian Buse

Regie: Heiko Dietz

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