Cuvilliéstheater  Die Verwandlung nach Franz Kafka


 

 

Weg muss es ...

 

Gregor Samsa war ein gutes Mitglied der Gesellschaft, stets erbötig, allen Anforderungen gerecht zu werden. Er ist der ideale Sohn, ernährt den langsam fett werdenden Vater und die vergnügt unter Atembeschwerden leidende Mutter nach deren wirtschaftlichen Pleite. Er ist der ideale Bruder, glaubt, trotz mangelndem Talent der Schwester, an deren künstlerische Berufung. Er tilgt die Schulden der Eltern und möchte Schwester Grete das Musikkonservatorium bezahlen. Gregors Leben gleicht seit fünf Jahren einem Uhrwerk, obgleich er als Handlungsreisender einigen Gefahren ausgesetzt ist, beispielsweise Verkühlungen. Gravierende Kommunikationsprobleme an diesem Morgen sprechen für Vorboten einer solchen Verkühlung. Was die vor der Zimmertür Gregors lamentierenden Familienmitglieder nicht wissen, nicht wissen können, ist, dass der Bursche sich in ein exorbitantes Insekt verwandelt hat. Als man seiner neuen Gestalt ansichtig wird, bricht die gute bürgerliche Welt zusammen.

 

Thema der 1912 verfassten Erzählung ist das Anderartige, das Fremde. Davon verstand Franz Kafka eine Menge. Er thematisierte die Problematik durch eine Behauptung, nämlich die Verwandlung in ein Insekt, die durch nichts begründet oder erklärt wird. Die Literaturwissenschaft verlieh dieser besonderen Qualität das Prädikat „kafkaesk“. Die wahre Qualität des Textes liegt jedoch nicht in der Fantastik des Inhalts begründet, sondern in ihrer Doppeldeutigkeit, die da meint, die Ausgrenzung findet nicht primär durch die Andersartigkeit statt, sondern vornehmlich durch den Umgang mit dem Subjekt durch die Sozietät. Da braucht es nur eine Behauptung der Andersartigkeit, und schon richten sich gesellschaftliche Kräfte gegen den Stigmatisierten. So erklärt die Schwester am Ende schließlich: „Weg muss es, (...) „das ist das einzige Mittel, Vater. Du musst bloß den Gedanken loszuwerden suchen, dass es Gregor ist. Dass wir es solange geglaubt haben, das ist ja unser eigentliches Unglück. Aber wie kann es denn Gregor sein? Wenn es Gregor wäre, er hätte längst eingesehen, dass ein Zusammenleben von Menschen mit einem solchen Tier nicht möglich ist, und wäre freiwillig fortgegangen. Wir hätten dann keinen Bruder, aber könnten weiter leben und sein Andenken in Ehren halten.“ Man beachte die rhetorische Verdinglichung des Bruders: „Es“. Nun ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Tat. Gregor werden im Verlauf der Geschichte Verletzungen zugefügt, an denen er siecht. Man unterlässt die Hilfeleistung, kümmert sich immer weniger um ihn und nimmt seinen Tod mehr als billigend in Kauf.

 

  DieVerwandlung  
 

Jens Atzorn, Friederike Ott

© Matthias Horn

 
 
Es ist allemal ein gutes, weil aktuelles Thema für die Bühne. Die Umsetzung allerdings ist eine gewaltige Herausforderung, denn wie macht man das „Insekt“ sichtbar. Der isländische Regisseur Gísli Örn Garđarsson, selbst Ex-Leistungsturner, in dessen Theater die Akrobatik immer eine große Rolle spielt, setzt auf eben dieses Element der Darstellung. Er lässt den Schauspieler Jens Atzorn lediglich in seinen Bewegungen zum Käfer mutieren, verzichtet auf tierisches Kostüm oder Maske. Der brachte außerordentlichen Körpereinsatz und suggerierte glaubhaft, dass es sich um ein Insekt handelte, obgleich er doch sein menschliches Antlitz beibehielt. Eine zusätzliche kluge Lösung des Problems ergab sich aus dem Bühnenbild. Börkur Jònsson erschuf die Samsasche Wohnung als zweistöckiges Konstrukt. Unten das spießige Wohnzimmer, die Ziellinie deutscher Heimeligkeit und üppig ausgestattet mit dem bürgerlichen Mief der Jahrhundertwende (19. zum 20. Jh.). Darüber Gregors Zimmer, dessen Perspektive radikal verändert worden war. Während man das Wohnzimmer im normalen Querschnitt sah, ergab die Anordnung von Gregors Zimmer eine Draufsicht. Für Jens Atzorn erleichterte sich so das Kriechen an den Wänden. Problematisch war nun der Aufenthalt auf dem Fußboden, der nun senkrecht stand. Da er als Insekt ein Kriechtier war, sah man ihn zumeist in Gänze. Der Kunstgriff war so einfach wie genial, allerdings für München nicht gänzlich neu. Andreas Kriegenburgs Inszenierung von Kafkas „Der Prozess“ an den Kammerspielen bediente sich mit außerordentlichem Effekt dieses Perspektivwechsels.

 

Der Abend begann mit Choreografien der Rituale. Die Darsteller vollzogen allmorgendliche Handlungen als wären es kultische. Als schließlich bemerkt wurde, dass Gregor das Haus noch nicht verlassen hatte, kam Unruhe, sogar Hektik auf. Ein unerhörter Fall war eingetreten. Gerhard Peilsteins Vaterfigur hatte eine Menge Qualitäten eines Diederich Heßling (Der Untertan). Devot gegen vermeintliche gesellschaftliche Größen, in der Familie allerdings selbstverliebt und blasiert, stolzierte er, Moralität einfordernd, am Ende sogar proper uniformiert durchs Geschehen. Die Mutter hingegen, dezent asthmatisch pfeifend oder schrill überdreht gespielt von Ulrike Willenbacher, war durchgängig mit allem überfordert, am meisten mit sich selbst. Die Schwester Grete ist eine der interessantesten Figuren der Erzählung. Sie ist im Wesentlichen als die Berufene, sich des Bruders anzunehmen, die eigentliche Spielmacherin. Friederike Ott agierte quirlig und Konsequenz ausstrahlend. Ihre heitere Jugendlichkeit war nie frei von Bösartigkeiten. Sie nahm bei den Eltern selbstbewusst die Stelle ein, die der Bruder als Ernährer ursprünglich innehatte.

 

Als Friederike Ott am Ende umrahmt von zahllosen Blumen (Ein wunderbar überzeichnetes Bild!) nur wenige Stunden nach dem Tod Gregors, unter Klängen von Nick Cave die Frühlingsschaukel bestieg, „(...) fiel es Herrn und Frau Samsa im Anblick ihrer immer lebhafter werdenden Tochter fast gleichzeitig ein, wie sie in der letzten Zeit trotz aller Plage, die ihre Wangen bleich gemacht hatte, zu einem schönen und üppigen Mädchen aufgeblüht war. Stiller werdend und fast unbewusst durch Blicke sich verständigend, dachten sie daran, dass es nun Zeit sein werde, auch einen braven Mann für sie zu suchen.“ Die Welt war gerettet. Es war die Welt der Herren Stietl (Chef Gregors), Dr. Hoffmann (Arzt) oder Fischer (verhinderter Logisgast im Haus Samsa), allesamt Gralshüter der Bürgerlichkeit, überaus vielfältig und nicht ohne entlarvend komische Züge gestaltet von Arthur Klemt.

Es war ein Wagnis und eine gelungene Inszenierung, die vom Publikum dankbar angenommen und aus gutem Grund mit langem Applaus honoriert wurde. Für einen solchen Abend kann man nur danken.

 

Wolf Banitzki


 


Die Verwandlung

nach Franz Kafka

Jens Atzorn, Gerhard Peilstein, Ulrike Willenbacher, Friederike Ott, Arthur Klemt

Regie: Gísli Örn Garđarsson
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