Cuvilliéstheater Stiller nach Max Frisch
Frischs „Stiller“ zwischen Mensch und Puppe
Ein reizvoller Gedanke, seine Biografie Knall auf Fall zu beenden und eine völlig neue zu beginnen. Das ist Freiheit! Ist es das wirklich? Frisch stellte seinem Roman zwei Zitate von Sören Kirkegaard, einem Stammvater des Existenzialismus, aus dem Buch „Entweder – Oder“ voran. Kirkegaard setzte den Willen vor die Vernunft. Folglich kommen dem Menschen die Einsichten erst nach der Entscheidung für oder gegen das Etwas. „Die Subjektivität ist die Wahrheit!“, meinte Kirkegaard. Eine rationale Ethik lehnte er ab, präferierte eher eine religiöse und brachte sich damit selbst in die Nähe der Romantiker. Nichts anderes zeichnete Frisch in seinem Roman auf. Hier offenbarte sich einmal mehr der große Konflikt, in dem sich Frisch, der Architekt, der Technikgläubige, der Rationalist lebenslang befand, und der in seinem Roman „Homo Faber“ seine deutlichste Ausformulierung fand. Das Leben ist nicht berechen- und damit nicht bis ins letzte Detail planbar. „- Sieh, darum ist es so schwer, sich selbst zu wählen, weil in dieser Wahl die absolute Isolation mit der tiefsten Kontinuität identisch ist, weil durch sie jede Möglichkeit, etwas anderes zu werden, vielmehr sich in etwas anderes umzudichten, unbedingt ausgeschlossen ist.“ Kirkegaard – Oder, etwas laxer formuliert: Es gibt ein Entrinnen vor sich selbst.
Stillers Leben ist eine gelebte Realität. Doch plötzlich muss der Mann feststellen, dass es nicht sein Leben ist, nicht das Leben, das er zu Leben gedenkt. Im ganzen Roman findet sich allerdings kein Anhaltspunkt dazu, wie sein Leben aussehen könnte. Nur soviel: Sein Leben ist ein Plagiat. Er zieht die Konsequenzen und flieht aus dem Leben als Bildhauer, aus seiner Ehe mit der schönen und erfolgreichen, aber kranken Julika und aus der Liebschaft mit Sibylle. Bei der erneuten Einreise in die Schweiz nach gut 6 Jahren erkennt man ihn und setzt ihn fest, nachdem er einen Zöllner geohrfeigt hat. Doch Stiller behauptet, ein gewisser James Larkin White aus den USA zu sein. Er hält selbst dann noch daran fest, als die Beweise erdrückend werden. Insbesondere dem Staatsanwalt Rolf, er ist der Ehemann von Sibylle, Stillers Ex-Geliebten, ist daran gelegen, White in sein altes Leben als Stiller zurück zu befördern, denn der Mann ist ein Ärgernis und er stört die Harmonie des (Schweizer) Universums.
Stiller bleibt hart. Er wird dennoch verurteilt, Stiller zu sein und muss seine aufgelaufenen Schulden tilgen. Eine der letzten beschriebenen Szene aus der Feder Stillers ist die Begegnung mit dem Vater in Stillers Atelier, den Stiller natürlich verleugnet. Es ist ein Lokaltermin, bei dem Stillers Anwalt die Wahrheit provozieren will. Über die Frage Julikas, „Liebst du mich?“ gerät Stiller derart Wut, dass er die Gipsskulpturen zertrümmert: „Mumien, nichts als Mumien“. Staatsanwalt Rolf weiß am Ende (2. Teil des Romans) zu berichten, dass Stiller neuerlich eine Beziehung mit seiner Ehefrau Julika zu leben versucht. Doch es funktioniert nicht. Als Julika an der nochmals ausgebrochenen Tuberkulose stirbt, zieht sich Stiller gänzlich in die Einsamkeit zurück.
Wolfram Rupperti, Thomas Gräßle, Aurel Manthei, August Zirner, Barbara Melzl © Thomas Dashuber |
Tina Lanik (Regie) und Mervyn Millar (Puppenregie) haben sich des Romans von Max Frisch angenommen, um ihn in dramatischer Form zu einem hochartifiziellen Theaterabend umzugestalten. Das brachte das übliche (und bereits oft benannte) Problem mit sich, dass weite Teile der Handlung in reflexiver Prosa passierten, was zweifellos unterhaltsam ist, jedoch selten so spannend wie ein Theatertext, weil Dialoge wesentlich direkter wirken. Diesem Problem konnten die Macher in diesem Fall allerdings geschickt aus dem Weg gehen, denn das Sprechtheater wurde mit Puppentheater (Handspring Puppet Company - Basil Jones and Adrian Kohler ) kombiniert. Die wichtigen Protagonisten wurden durch Pendants in Form von Puppen (Puppendesign: Edmund Dimbleby) unterschiedlichster Größen kontrastiert und/oder ergänzt. Die Wirkung war frappant und fast hätte man meinen mögen, in dieser Konstellation könnte wohl jede Geschichte ästhetisch funktionieren.
Stefan Hageneiers Bühnenbild war letztlich auch mehr auf das Puppenspiel, denn auf das Sprechtheater zugeschnitten. Der perspektivisch gestreckte Raum, ein Zellentrakt des Untersuchungsgefängnisses, war die wunderbar simple Umsetzung einer mit lockerer Hand hingeworfenen Bleistiftzeichnung. Durch zwei durchsichtige Vorhänge konnte der Raum verkürzt oder aber auch vertieft werden. Außer August Zirner, der einen grantelnden, phantasierenden und unzugänglichen Stiller gab, waren alle anderen Darsteller eingesetzt, die Puppen zu bewegen. Sibylle Canonicas Julika war eine fragile Schönheit, deren Bedeutung so vage blieb in dem ganzen Spiel, wie der Rauch ihrer vielen Zigaretten. Ihre Figur stand für die Vergänglichkeit.
Oliver Nägeles opportunistischer Staatsanwalt, hatte, insbesondere wenn es um seine Ehefrau ging, etwas Mitleid erregendes. Er hatte wunderbar komische Momente, insbesondere, wenn seine Mitmenschen ihm Schmerz zufügten. Barbara Melzls propere, sehr direkte Sybille fügte gerade ihm Schmerzen zu. Sie war eine verwöhnte Tochter aus reichem Haus, für die nur ein einziger Mensch wirklich zählte: sie selbst. Thomas Gräßle gestaltete komödiantisch den genervten Anwalt Stillers (Bohnenblust) für den es nur eine Wahrheit gab, die des Augenscheins, und dem jegliches Verständnis für Abweichungen von seiner Wahrheit fehlte. Ganz im Gegensatz zu diesem Pragmatiker gab Robert Joseph Bartl einen beinahe poetisch anmutenden Gefängniswärter Knobel. Knobel war übrigens der einzige Mensch, der Stiller Glauben schenke, zumindest so lange, bis der sich nach seinem dritten Mord, den er begangen zu haben vorgab, in Widersprüchen verstrickte.
Max Frischs Roman ist seit seinem Erscheinen Gegenstand von Interpretationen, die sogar vereinzelt soweit gehen, die Frage nach der Identität Whites/Stillers immer wieder neu zu stellen. Tina Lanik fügte der Vielzahl der Interpretationen, auch der Lesarten keine wirklich neue hinzu. Das war auch nicht nötig, denn Frischs Roman aus dem Jahr 1954 ist inzwischen Klassiker und viele Versuche, Klassiker um jeden Preis neu zu interpretieren, enden nicht selten in der Lächerlichkeit oder sie müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, das Werk beschädigt zu haben. Es ist tatsächlich ein großartiger philosophischer Roman, der auf erschreckend nüchterne und zugleich subtile Weise den sich selbst entfremdeten Menschen und damit auch die Gesellschaft, die diesen Menschen hervorgebracht hat und immer noch hervorbringt, anzweifelt. Die Frage, ob es Tina Lanik mit der Inszenierung auch gelungen ist, das Essentielle des Romans, das Prinzip der Selbstentfremdung zu transportieren, muss eindeutig mit einem Ja beantwortet werden.
Die Mischung aus Schauspiel und Puppenspiel hat sich als probates Mittel erwiesen, Denkprozesse durch Verfremdung und Verlangsamung zu schärfen und ihre Komplexität freizusetzen. Dabei entstanden Bilder, die einerseits fremdartig, auch befremdend wirkten, in denen sich der Betrachter andererseits aber auch wieder finden konnte. Wirkung entsteht durch Spannungen, das gilt in der Physik ebenso wie in der Kunst. Dass es sich um ein gelungenes Experiment handelte, meinte auch das Publikum, das die Vorstellung mit deutlichem und lang anhaltenden Applaus honorierte.
Wolf Banitzki
Stiller
nach Max Frisch
In Zusammenarbeit mit der Handspring Puppet Company
Robert Joseph Bartl, Sibylle Canonica, Thomas Gräßle, Aurel Manthei, Barbara Melzl, Oliver Nägele, Katrin Röver, Wolfram Rupperti, Marie Seiser, August Zirner |