Die Befristeten
Cuvilliéstheater Die Befristeten nach Elias Canetti
Von Tod, Leben und Freiheit
Von Verdun bis Auschwitz und Hiroshima breitete der Tod seinen Mantel über Menschen, etwa 90 Millionen wurden ihm in einer Zeitspanne von kaum 50 Jahren übergeben, der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Elias Canetti war Zeitzeuge dieser gewaltigen Massenvernichtungen und in seinen Werken finden sich Spuren der Auseinandersetzung, denen zu folgen den geistigen Horizont deutlich erweitern kann. In seinem, 1953 entstandenen Hörstück „Die Befristeten“ erzählt er von einer Gesellschaft, die sich in dem Wahn bestätigt, durch die Kenntnis der Lebensspanne zu mehr Sicherheit, Zufriedenheit und Kontrolle gelangt zu sein. Ein unübersehbar faschistoider Ansatz, der dem Zeitgeist entsprach auf den man sich in der nationalsozialistischen Idee geeinigt hatte, die das Leben anderer klassifizierte und nach Gutdünken damit verfuhr. Und dies, obwohl die ursprüngliche Idee zu dem Werk dem scheinbar simplen Vorgang des Lesens von Schicksal aus den Linien einer Hand entsprang. Die Nutzung von Anmaßung und Glauben sollte zur Vermittlung von Gewissheit dienen.
„Der Tod als Drohung ist die Münze der Macht. Es ist leicht, hier Münze auf Münze zu legen und enorme Kapitalien anzusammeln. Wer der Macht beikommen will, der muss den Befehl ohne Scheu ins Auge fassen und die Mittel finden, ihn seines Stachels zu berauben.“ (Masse und Macht, E. Canetti)
Die Angst des Menschen im Leben, um sein Leben ist allgegenwärtig und so umfassend, wie es wohl die Überforderung mit ebendiesem ist. In Bewegung hält den Vorgang der Begegnung mit der Existenzangst die Generierung von Macht und Unterdrückung. Hier treffen sich Individuum und Masse gleichermaßen. In einem Zeitalter, in dem durch die technischen Aufrüstungen die Vernichtung von allem Leben und dem gesamten Planeten Erde möglich ist, nimmt die Angst überproportionale Ausmaße an. Sie wird unterdrückt und ist doch spürbar allgegenwärtig. Ihre Pervertierung schleicht durch die Gesellschaft, wird stellenweise legitimiert. Auswirkungen finden sich im Versuch der wissenschaftlichen und erwerbbaren Körperperfektionierung ebenso, wie im „gewaltsamen“ Erhalt von Leben, dem die Freiheit zu altersbedingtem selbstbestimmtem Tod genommen wird. Macht über das Dasein zu erlangen – ein Traum des Individuums – der in der Bewegung der Masse immer entartet.
Zur Biennale für neues Musiktheater griffen Regisseurin Nicola Hümpel und Komponist Detlev Glanert das Werk „Die Befristeten“ auf, um eine Inszenierung in der Sprache, Musik und Körper gleichermaßen Beachtung zukam, zu erarbeiten. Das Stück, eine Szenenfolge von alltäglichen Situationen, bietet neben den Grundproblemen auch eine Reihe von Anknüpfungspunkten, die aktuell in der Gesellschaft diskutiert werden. Der Ausgangspunkt dazu ist der einzelne Mensch in seiner jeweils gegenwärtigen Verfassung, die an der Gewissheit seines Todestages festgemacht scheint. Der rational materielle Umgang mit dem Tod und der zur Verfügung stehenden Lebenszeit hat oberste Priorität, der alles untergeordnet wird. Ausbildung, Berufs- und Partnerwahl und letztlich der Fatalismus mit dem das Ende als schicksalsgegeben hingenommen wird. Diese Ordnung, der Gesellschaftsvertrag welcher vom Kapselan (Gottesebenbild bzw. gesetzlicher Ordnungsvertreter), aufrecht erhalten wird, gilt als unabänderlich und wird nicht in Frage gestellt. Die Masse beugt sich dem Gesetz solange, bis Einer es in Frage stellt. Durch den Widerspruch beginnt das System sich aufzulösen ...
Auf einer Töpferscheibe in der Mitte der, von Oliver Proske gestalteten, Drehbühne stand eine üppige Venusfigur aus Ton, an welcher sich der Kapselan künstlerisch versuchte. Paul Wolff-Plottegg erforschte dazu auch seinen Körper, untersuchte seinen Arm mit genauem Blick, drehte sich sinnbildhaft um seine eigene Achse. Die Musik blieb eher im Hintergrund unterlegend, bisweilen wie im Film beiläufig und doch die Momente unterstreichend, welchen es galt nachzuspüren. Die Bühne begann sich zu drehen, die Zeit nahm ihren Lauf und der Prospekt kam ins Blickfeld. Yui Kawaguchi tanzte auf dem Haus, ihre Bewegungen zeugten von feinsinniger, geradezu perfekter Körperbeherrschung und akrobatischem Können. Damit kamen Schönheit und Verletzlichkeit ins Spiel. Aus dem Hintergrund erschien eine Gruppe, trat an Rampe und Michaela Steiger erklärte mit kraftvoller, keinen Widerspruch duldender Stimme, die gemeinsamen Glaubenssätze. Wolfram Rupperti, Marie Seiser, Tom Radisch und Philipp Caspari verkörperten Figuren dieser Welt, welche ihren Alltag ausbreiteten. Götz Schulte spielte anspruchsvoll, doch unaufdringlich den Verweigerer, dessen Überzeugung zu Freiheit führte. Bisweilen unterbrach vorsätzliche Komik, suchte Beifall im Publikum und löste sich auf im nächsten Bild. Einige Weiterführungen des Textes ins Heute wirkten langatmig und gewollt aufklärend, ganz wie im realen Raum zelebriert, lösten sich auf im nächsten Bild. Die Bühne, deren Boden Plastikreste und nicht Gras zierte, trug die Zeit voran - mal sehr langsam, mal kontinuierlich, mal schnell oder angehalten - Mauer und Häuser wechselten bis am Ende die Figuren durch die Öffnungen ins Freie getragen schienen.
David Caspari, Wolfram Rupperti, Tom Radisch, Yui Kawaguchi, © Adrienne Meister |
Die letzten Bilder der Inszenierung wirkten eindringlich und zeigten die Verlorenheit der Gestalten durch Erkenntnis und den damit einhergehenden Verlust der ehemals vereinbarten und akzeptierten Werte und Richtlinien. Valerie Pachner, mit Brille und Kostüm, stand dafür – ratlos, im Angesicht der Freiheit. Eine unmissverständliche Aufforderung zu Aufbruch in mehr Lebendigkeit wurde geboten und damit der Akzeptanz des Daseins per se, das durch Zusammenwirken, die Komposition klassischer und freier Elemente von Musik und Tanz, Schwingung und Bewegung der schöpferischen Kräfte getragen wird. Es war eine erlebenswerte anregende Inszenierung welche den Künstlern gelang, die die Vielfalt einer universellen Metapher umzusetzen verstanden. Das Konzept der achtsamen prozessbezogenen Zusammenarbeit ging auf und stand sinnbildlich für einen möglichen neuen Weg. Was kann ein Musktheaterstück mehr leisten? Um es mit Elias Canetti zu sagen: „Prinzip der Kunst: mehr wiederfinden als verloren gegangen ist.“
C.M.Meier
Die Befristeten
Musiktheater von Detlev Glanert und Nicola Hümpel nach Elias Canetti
David Caspari, Yui Kawaguchi, Valerie Pachner, Tom Radisch, Wolfram Rupperti, Götz Schulte, Marie Seiser, Michaela Steiger, Paul Wolff-Plottegg Ensemble Piano Possibile – Thomas Hastreiter, David Jäger, Evi Keglmaier, Chris Lachotta, Jinny Lee, Philipp von Morgen, Julia Schölzel, Tobias Weber Regie/Konzept/Kostüme: Nicola Hümpel |