Opera Incognita  Dido and Aeneas / The Rape of Lucretia von Henry Purcell und Benjamin Britten


 

Die Geschichte ist eine Geschichte von Verrat und Mord

Beide Opern aus den Federn britischer Komponisten behandeln mythologische Stoffe. Die 1689 entstandene, „Dido and Aeneas“, und damit eine der ersten Opern in England überhaupt, wurde von Henry Purcell (1658-1695) in Töne gesetzt. Zwar an der florentinischen Oper orientiert, definiert sie sich dennoch eigenwillig als Choroper. Purcell war ein ausgesprochener Vollblutdramatiker, der gern auf Volksliedweisen und Tanzrhythmen zurückgriff, was seiner Musik große dramatische Durchschlagskraft verlieh. Der genialische Komponist starb 37jährig, zu früh, um Nachfolger heranzubilden oder gar eine Schule zu begründen. So fand die Entwicklung zu einer englischen Nationaloper, anders als in Italien nach Monteverdi oder in Frankreich nach Lully, ein abruptes Ende.

„Dido and Aeneas“ ist die einzige Oper Purcells, die im Original erhalten geblieben ist. Erzählt wird darin die Liebesgeschichte der Dido, sagenhafte Tochter des Königs von Tyros, die, nachdem ihr Bruder Pygmalion ihren Gatten ermordet hatte, nach Afrika geflohen war. Dort beanspruchte sie ein Reich, welches sich von einer einzigen Kuhhaut umspannen ließ. Nachdem sie die Haut in feinste Streifen geschnitten hatte, ergab sich eine Fläche, die groß genug war, um darauf das antike Karthago zu errichten. Aeneas, Sohn des Trojaners Anchises und der Aphrodite, vermählt mit Krëusa, floh, seinen gelähmten Vater auf den Schultern tragend, vor den in die Stadt eingedrungenen Griechen aus Troja. Krëusa überlebte die Flucht nicht. In Delos wurde Aeneas vom Orakel beauftragt, das Land seiner Väter (Italien) zu suchen. Aeneas kam jedoch nur bis Sizilien, wo sein Vater Anchises verstarb. Ein von Juno entfesselter Sturm warf sein Schiff an die afrikanische Küste, wo er in Karthago von Dido aufgenommen wurde, die augenblicklich in Liebe zu dem Trojaner entflammte. Doch so, wie die Welt der Frauen die Liebe ist, gilt die Liebe der Männer der Welt. (A. Heller) Also folgte Aeneas seiner Berufung und verließ die Liebende, die sich (nach Vergil) mit dem Schwert des Geliebten auf dem Scheiterhaufen das Leben nahm. Die ganze Geschichte hat nur einen peinlichen Haken, denn zwischen dem Fall von Troja, ein literarisches Ereignis und keine nachgewiesene historische Begebenheit, erstaunlicher Weise wird in der Fachliteratur die Zahl 1184 v.Ch. genannt, und der Gründung Roms im Jahr 753 v.Ch., als dessen Initiator Aeneas gilt, liegen mehr als vierhundert Jahre. Mythologie hat eben eine eigene Logik. Tatsache ist, dass am Anfang Roms ein großer Liebesverrat stand.

Und mit Verrat, Mord und Totschlag ging es unbeirrt weiter durch die ganze Geschichte der Menschheit. Angekommen im Jahr 510 v.Ch. begegnen wir in Rom einem wahren Erzschurken: König Tarquinius Superbus. Durch Mord an die Macht gelangt, gab er das Bild des typischen Tyrannen ab, eifrig weiter mordend. Seine vermeintliche Absetzung und Verbannung im Jahr 509 v.Ch. gilt als die Geburtsstunde der Römischen Republik, in der die Macht des Gesetzes größer war als die Macht einer einzelnen Person. Aber auch diese Geschichte ist höchst umstritten und so muten die Erzählungen, die sich um diesen letzten König Roms und seine Familie ranken, ebenso sagenhaft an wie die von „Dido and Aeneas“. Benjamin Britten bediente sich dieser Sage für seine zweiaktige Oper „The Rape of Lucretia“. Hauptakteure in dieser Geschichte sind Lucretia, ihr Mann Lucius Tarquinius Collatinus, König Tarquinius’ Sohn Sextus und deren gemeinsamer Freund Lucius Iunius Brutus. Die drei Feldherren sitzen bei einem Trinkgelage zusammen und lassen sich über die Moral der Frauen aus. Einer Laune folgend reiten sie spontan nach Rom zurück, um die Treue ihrer Ehefrauen zu überprüfen. Nur Collatinus Ehefrau, die schöne Lucretia erweist sich als tugendhaft, allerdings mit fatalen Folgen. Prinz Tarquinius fühlt sich von der Schönen über alle Maßen angezogen und herausgefordert, die Tugendhaftigkeit der Frau zu brechen. Britten lässt seinen Tarquinius Lucretias Namen melismatisch, d.h. jede Silbe einzeln betonend, wiederholen, so dass ungebremste Wollust mitschwingt, die eine bedrohliche Ahnung erzeugt.

  Dido and Aeneas Lucretia  
 

Torsten Petsch und Herfinur Árnafjal

© Misha Jakl

 

Tarquinius reitet wildentschlossen erneut nach Rom zurück und erbittet bei Lucretia Gastfreundschaft. Ein dramatischer Männerchor beschreibt den wilden Ritt und die Durchquerung des Tibers. In Collatinus Haus angekommen, trifft er Lucretia und ihre Mägde Bianca und Lucia beim Spinnen an. Die Frauen sind verunsichert und verängstigt. Über der „Gute Nacht Szene“ schweben düstere Vorahnungen. Tarquinius dringt in der Nacht in das Zimmer seiner Gastgeberin ein, bedrängt sie und als sie ihm nicht zu Willen ist, vergewaltigt er sie. Der zweite Akt beginnt mit einer politischen Bestandsaufnahme durch die beiden Chöre, männlicher und weiblicher. Es wird von Unruhen und von der Vorbereitung zum Aufstand berichtet. Als Collatinus und Iunius, von bösen Vorahnungen getrieben, in Collatinus Haus zurück kehren, ist Lucretia außer Stande, ihm die Schande zu gestehen. Collatinus errät, vermag aber seine Frau nicht mehr zurück zu halten und Lucretia erdolcht sich. Ihr Tod wird zum Fanal des Aufstandes. Der Chor reflektiert aus heutiger Sicht den Opfertod und verweist in christlicher Manier auf den Erlöser.

Regisseur Andreas Wiedermann und der Musiker Ernst Bartmann brachten beide Opern im Müller´schen Volksbad zu einer beeindruckenden Aufführung. Gesungen wurde in Originalsprache, also englisch, mit Obertiteln. Die Inszenierung verwob oder verzahnte beide Geschichten miteinander. Die weibliche Chorführerin, mitfühlend und mitleidend gesungen von Carolin Ritter, und der männliche Chorführer, ebenso emotional in die Geschichte involviert Jorge Jimènenz, beide waren als heute Zeitgenossen angelegt, führten in die Geschichte ein. Die begann mit dem Treffen von Tarquinius (Torsten Petsch) und Collatinus (Samuel L. Berland). Beide schauten sich ein Theaterstück an. Gespielt wurde „Dido and Aeneas“, also, wie bereits erwähnt, die Geschichte eines großen Liebesverrats, in dem eitles männliches Sendungsbewusstsein über reale menschliche Liebe siegte. Dido wurde einem Orakelspruch geopfert. Immerhin brachte Purcell, um Aeneas (Herfinur Árnafjal) zu diesem Verrat zu verführen, drei Hexen ins Spiel, siehe Shakespeares „Macbeth“, was das männliche Versagen allerdings auch nicht entschuldigen kann. Durch eine komödiantische Franziska Zwink in einem luftigen rauchfarbenen Kostüm von Aylin Kaip als 1. Hexe bekam die Inszenierung des Theaters im Theater auch eine märchenhafte Dimension.

Musikalisch boten sich beide Opern für die sehr begrenzten Mittel des Unternehmens „Opera Incognita“ und den wenig schallschluckenden Raum überdies an, denn die barocken Orchester waren zu Purcells Zeiten längst nicht so voluminös wie heute und Benjamin Britten hatte für seine Kammeroper ohnehin nur zwölf Musiker vorgesehen. In der Bearbeitung und unter dem Dirigat von Ernst Bartmann klang das Orchester in dem halligen Raum verblüffend klar und differenziert, was der Liedhaftigkeit beider Opern sehr entgegen kam.

Gespielt wurde auf der Galerie an der Frontseite, auf allen vier Seiten des Damenbeckens und natürlich auch im Becken. Diese besonderen Anforderungen an die Darsteller, insbesondere an den Chor, zeitigten einige verblüffende Effekte. Die waren vornehmlich in der Physik des Elements Wasser begründet. Wenn der Chor in dramatische Wallung geriet, übertrug sich die Bewegung auf das Wasser und wurde im wahrsten Sinn des Wortes sichtbar: Die Darsteller bewegten! Im Wasser konnten sie allerdings auch schweben oder schwimmend und wie von unsichtbarer Hand bewegt ihre Kreise ziehen, ausdrucksstarke Figurinen bilden oder Gruppenkompositionen ins Bild setzen.

Natürlich darf die Nähe des Publikums zur Handlung und zu den Darstellern nicht unerwähnt bleiben. Die scherzhafte Einführung durch das Einlasspersonal, die Darsteller bitte nicht zu berühren oder zu füttern, hatte einen guten Grund. Die vierte Wand gab es nicht und so teilten die Darsteller das Nass auch schon mal mit den dem Beckenrand am nächsten sitzenden Zuschauern. Es war dem Publikum so aber auch vergönnt, den Darstellern extrem nahe zu kommen. Dabei konnten sie oder er eine Entdeckung machen, die gleichsam ein wichtiges Merkmal beinahe aller Inszenierungen von Andreas Wiedermann ist, die extrem hohe Intensität, mit der alle Beteiligten agieren. Die Spiellust, die Empathiebereitschaft, die Vorbehaltlosigkeit, mit der da gespielt und gesungen wurde, war zwingend, fesselnd und unbedingt ansteckend. Und in der Fähigkeit, den natürlichen Spielfluss gegebenenfalls in einen emotionalen Sturzbach zu verwandeln liegt wohl ein Großteil des Erfolges von Andreas Wiedermann und seinen Mitstreitern begründet.

Unter diesen Umständen wurde Pathos nie lächerlich und als Frauke Mayer mit ihrer wundervoll weiblichen und zugleich prägnanten Stimme die Sterbearie der Lucretia sang, war das ein Gänsehautmoment. Das vermochte allerdings auch der Chor zu leisten. Im zweiten Bild (nach der Pause) war das Becken mit zahllosen (Liebesbande/Schicksals-) Fäden überspannt; Lucretia und ihre beiden Mägde Bianca und Lucia, von den agilen und Liebreiz versprühenden Vanessa Fasoli und Franziska Zwink gegeben, waren beim Spinnen und gerieten darüber in eine Klage über das Los der ans Haus gefesselten, aller Freiheiten beraubten und in ihrem Begehren allein gelassenen Frau. Diese Situation gipfelt in blanke Verzweiflung, als der Chor das aus „King Arthur“ entliehene „Let me freeze“ (Cold Genius) sang. Es war noch einmal eine dramatische Steigerung unerwarteten Ausmaßes vor dem Showdown.

Britten kommentiert über den Tod der Lucretia hinaus auf recht nüchterne Weise den politischen Vorgang der Historie, um schließlich die Frage zu stellen, ob sich denn alles immer zum Schlechten wenden müsse. So blieb am Ende doch nur der Glaube an den und die Beschwörung des Erlösers. Hier scheiden sich naturgemäß die weltanschaulichen Geister. (Es gibt sie noch, die Atheisten!) Doch Andreas Wiedermann ließ es nicht dabei bewenden und den Erlöser kreuztragend leibhaftig erscheinen. Absolut sehenswert das letzte Bild. Der Dornenbekränzte versuchte den Gang übers Wasser, scheiterte recht komisch und versank. Er erklomm erneut den Beckenrand startete einen weiteren untauglichen Versuch. Schließlich erbarmten sich einige Choristen und bildeten mit ihren Körpern einen Ponton. Und siehe da, der Heiland ging über das Wasser! Ein wunderbares Bild, denn es behauptete nicht, dass Jesus dank seiner göttlichen Kraft über das Wasser ging, sondern der Glaube der Gläubigen ihm dazu verhalf.

„Es rettet uns kein höh'res Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun (…)”, schrieb der Pariser Kommunarde Eugène Pottier 1871 in seinem Lied, das heute als “Sozialistische Internationale” zunehmend in Vergessenheit gerät. Vielmehr ist die Religion heute wieder zum Brandbeschleuniger geworden, die wirklichen Probleme der Welt aus dem Fokus rückend. Doch die Inszenierung betont, was heute Gang und Gäbe ist. Machtbesessenheit, Gier, Korruption, Ausbeutung, Lüge und Intrige. Das ist das Bild, das sich den Menschen heute in zunehmendem Maße bietet. Es herrscht wieder einmal Weltuntergangsstimmung und, wie zu allen ähnlichen Zeiten, der Mensch giert nach einem sicheren Glauben oder einem Erlöser. Weder das Eine noch der Andere haben sich in der Geschichte als tauglich erwiesen und so sei, ehe wir in Fatalismus versinken, noch einmal Eugène Pottier zitiert: „Uns aus dem Elend zu erlösen / können wir nur selber tun!“

Wolf Banitzki

 


Dido and Aeneas / The Rape of Lucretia
nach den Opern von Henry Purcell und Benjamin Britten

Im Müller´sches Volksbad

Solisten:
Jorge Jimènenz, Carolin Ritter, Frauke Mayer, Torsten Petsch, Herfinur Árnafjal, Vanessa Fasoli, Franziska Zwink, Samuel L. Berland, Johanna Schumertl

Orchester:
Flöte: Vera Klug, Oboe: Lorenz Eglhuber, Klarinette: Gabriele Oder, Fagott: Hannah Jacobs, Horn: Stefano Brusini, 1. Violine: Julia Knapp, 2. Violine: Joseph Querleux, Viola: Sarah Dragovic, Cello: Julia Klaushofer, Kontrabass: Alexander Weiskopf, Harfe: Marika Riedl, Schlagwerk: Stephan Halbinger, Klavier/Continuo: Christian Döhring

Chor Opera Incognita
Anna Babl, Hedi Bäcker, Veronika Berner, Susanne Brunner, Carolin Becker, Julia Dreisbach, Anna-Jemima Finzl, Ann-Christin Gritto, Laura Popp, Ingrid Rottler, Johanna Schumertl, Ursula Schwarz, Hanna Schwenkglenks, Nina Skalitzky, Verena Salitzky, Patrizia Steihauser, Susanna Steinhauser, Sabrina Wagner, Helmut Bayerer, Niklas Becker, Thomas Greimel, Thomas Greinwald, Stefan Hintzen, Arnold Holler, Lukas Huge, Martin Holzner, Martin Selmayr, Pascal Wilfer

Inszenierung: Andreas Wiedermann
Musikalische Leitung: Ernst Bartmann