Halle 7 Das Wäldchen von Jesper Halle
Kinder lügen nicht
Der Besucher glaubt dem Spiel in einem wohlbehüteten Puppenhaus beizuwohnen, wenn die Akteure des Dramas "Das Wäldchen" von Jesper Halle in der Halle 7 scheinbar ziellos ihr Spiel beginnen. Und das Puppenhaus kann beinahe wörtlich genommen werden. Bühnenbildner Peter Dachser schuf einen Guckkasten, dessen Ausmalung ein kindliches Universum versinnbildlichte. Das Verlassen dieser geschützten Heimstatt war gleichbedeutend mit dem Schritt ins Leben der Erwachsenen, ohne jedoch aus dem Kindsein herauszutreten.
Die Geschichte von Jesper Halle, eine fiktive, wie im Programmheft nachzulesen ist, ist ein bunter Reigen von Kinderspielen, der Charaktere deutlich hervortreten lässt und frühe Individualitäten erklärt. Doch bald schon werden kleine Geheimnisse sichtbar und stacheln die kindliche Neugierde an. Julie Nielsen, die Warzen hat, verfügt über einen schier unerschöpflichen Vorrat an Süßigkeiten. Dann finden die Kinder ihre blutbefleckten Unterhosen im verbotenen Wäldchen und schließlich entdeckt Jonas ein goldenes Armband am Handgelenk Julies. Von einem großen Mann ist die Rede, doch alles soll ein Geheimnis bleiben. Und Kinder nehmen Geheimnisse sehr ernst. Als das Wäldchen in Flammen aufgeht, ein Penner zu Tode kommt, ist Julie verschwunden, endgültig. Julies Eltern ziehen weg aus der Siedlung und die Geschichte findet mehr als nur eine Erklärung. Doch Jonas gibt nicht auf in seine Suche nach Julie. Als er das goldene Armband bei Anitra entdeckt, bekommt die Geschichte Konturen. Dann zieht Martine in die Siedlung. Sie ist Julie sehr ähnlich und als sie plötzlich das Armband trägt, nimmt das Grauen Gestalt an.
Die Geschichte ist voller Poesie, widerspiegelt psychologisch sehr feinfühlig das Verhalten von Kindern und entlarvt das Fehlverhalten der Erwachsenen, das von den Kindern in ihrem Nachahmungsdrang gelebt wird. Allerdings ist so eine Geschichte naturgemäß eine große Herausforderung an die Darsteller, denn allzu leicht kann die Umsetzung kindlicher Charaktere ins Kindische kippen. Doch davor waren Regisseur Dirk Engler, der die einzelnen Rollen sehr stimmig besetzt hatte, und der Autor selbst. Jesper Halle schuf nämlich keinen Kinderreigen, sondern eine Geschichte, die von Erwachsenen reflektiert wird. Selten zwar, doch mit ungeheurer Wirkung stiegen die Darsteller plötzlich aus dem kindlichen Spiel aus und ließen in ihren Kommentaren erkennen, dass alles Erzählte Erinnerung war. Regisseur Engler nutzte diese Brüche zur Schaffung eines übergreifenden Selbstverständnisses als Erwachsenentheater auf trefflichste Weise. Damit wurde er der Intention des dramatischen Entwurfs deutlich gerecht. Jesper Halle betonte ausdrücklich in einem Interview, "dass für (ihn) ein Stück die Basis für eine Art heilendes Ritual ist".
Sämtlichen Darstellern gebührt großes Lob. Das Zusammenspiel war präzise und glaubhaft. Die Glaubhaftigkeit wurde zudem noch durch die Erinnerung des Betrachters gesteigert, der sich Dank Halles genauer und atmosphärischer Beschreibung des Kindseins nicht selten in diesen Bildern wieder fand. Dennoch sollen einige Darsteller hervorgehoben sein. So zum Beispiel Philipp Denzel, der mit seiner Rolle als Jonas zwar einen Bonus hatte, den Part des ungestillt Neugierigen aber auf authentische Weise gab. Es gelang ihm, den psychologischen Subtext seiner Figur verstehbar zu machen. Ebenso Butz Buse, dessen Wuschel vom Autor ebenso begünstigt wurde. Wuschel ist ein Kind, das die Vorgänge über weite Strecken nur körperlich und mimisch kommentiert. Er ist nicht bereit, die Stimme zu erheben, steht dem Treiben sprachlos aber keinesfalls anteilnahmslos gegenüber. Buse gestaltet sehr anrührend stellvertretend für alle Kinder Ängste und Sehnsüchte. Mit ähnlicher Intensität und Hingabe verleiht Nadja Kruse der Julie Gestalt. Als Opfer der Geschichte gelingt es Nadja Kruse, den Tod ihrer Figur lange vor dem Gewaltakt gegen Julie einzuläuten. Schließlich soll noch Ana Filipovic erwähnt werden. Ihre Anitra war ebenfalls ein Schlüsselfigur zum Verständnis der Geschichte und zwar eine von heftigsten Zweifeln und Ängsten gebeutelte. In ihrem Spiel und der Identifikation mit der Rolle ging Ana Filipovic bis an die Grenzen des Erträglichen, wohl auch für sie selbst.
Diese Inszenierung lebte jedoch nicht von der Einzelleistung einiger herausragender Darsteller, sondern vom guten Ensemblespiel, das eine Welt zur kindlichen werden ließ, und von der inszenatorischen Geschlossenheit. An szenischen Umsetzungen, die das Publikum durchaus in Erstaunen versetzen konnten, mangelte es dabei nicht.
Kindesmissbrauch und Kindesmord gehören schon lange zur Bestsellerliste der medialen Schlagzeilen. Der Verschleiß sollte nachdenklich machen, insbesondere, wenn man das am Vortag gefällte Urteil für Michel Jackson vor Augen hat. Monatelang wurde der anscheinende Leidensweg eines sichtlich degenerierten Wesens beschrieben, der des Kindesmissbrauchs angeklagt war. Ein Urteil ist gefallen, doch niemand kennt die Wahrheit. Vom vermeintlichen Opfer erfährt man nichts oder nur wenig. In Halles "Wäldchen" herrscht Wahrheit und sie wird uns in aufrichtigster Weise vermittelt. Damit ist einmal mehr der Beweis erbracht, dass die Wahrheit im Theater noch einen Hort hat, in der Welt draußen nur Spielball von Interessensvertretern ist.
Der Besucher glaubt dem Spiel in einem wohlbehüteten Puppenhaus beizuwohnen, wenn die Akteure des Dramas "Das Wäldchen" von Jesper Halle in der Halle 7 scheinbar ziellos ihr Spiel beginnen. Und das Puppenhaus kann beinahe wörtlich genommen werden. Bühnenbildner Peter Dachser schuf einen Guckkasten, dessen Ausmalung ein kindliches Universum versinnbildlichte. Das Verlassen dieser geschützten Heimstatt war gleichbedeutend mit dem Schritt ins Leben der Erwachsenen, ohne jedoch aus dem Kindsein herauszutreten.
Die Geschichte von Jesper Halle, eine fiktive, wie im Programmheft nachzulesen ist, ist ein bunter Reigen von Kinderspielen, der Charaktere deutlich hervortreten lässt und frühe Individualitäten erklärt. Doch bald schon werden kleine Geheimnisse sichtbar und stacheln die kindliche Neugierde an. Julie Nielsen, die Warzen hat, verfügt über einen schier unerschöpflichen Vorrat an Süßigkeiten. Dann finden die Kinder ihre blutbefleckten Unterhosen im verbotenen Wäldchen und schließlich entdeckt Jonas ein goldenes Armband am Handgelenk Julies. Von einem großen Mann ist die Rede, doch alles soll ein Geheimnis bleiben. Und Kinder nehmen Geheimnisse sehr ernst. Als das Wäldchen in Flammen aufgeht, ein Penner zu Tode kommt, ist Julie verschwunden, endgültig. Julies Eltern ziehen weg aus der Siedlung und die Geschichte findet mehr als nur eine Erklärung. Doch Jonas gibt nicht auf in seine Suche nach Julie. Als er das goldene Armband bei Anitra entdeckt, bekommt die Geschichte Konturen. Dann zieht Martine in die Siedlung. Sie ist Julie sehr ähnlich und als sie plötzlich das Armband trägt, nimmt das Grauen Gestalt an.
Die Geschichte ist voller Poesie, widerspiegelt psychologisch sehr feinfühlig das Verhalten von Kindern und entlarvt das Fehlverhalten der Erwachsenen, das von den Kindern in ihrem Nachahmungsdrang gelebt wird. Allerdings ist so eine Geschichte naturgemäß eine große Herausforderung an die Darsteller, denn allzu leicht kann die Umsetzung kindlicher Charaktere ins Kindische kippen. Doch davor waren Regisseur Dirk Engler, der die einzelnen Rollen sehr stimmig besetzt hatte, und der Autor selbst. Jesper Halle schuf nämlich keinen Kinderreigen, sondern eine Geschichte, die von Erwachsenen reflektiert wird. Selten zwar, doch mit ungeheurer Wirkung stiegen die Darsteller plötzlich aus dem kindlichen Spiel aus und ließen in ihren Kommentaren erkennen, dass alles Erzählte Erinnerung war. Regisseur Engler nutzte diese Brüche zur Schaffung eines übergreifenden Selbstverständnisses als Erwachsenentheater auf trefflichste Weise. Damit wurde er der Intention des dramatischen Entwurfs deutlich gerecht. Jesper Halle betonte ausdrücklich in einem Interview, "dass für (ihn) ein Stück die Basis für eine Art heilendes Ritual ist".
Sämtlichen Darstellern gebührt großes Lob. Das Zusammenspiel war präzise und glaubhaft. Die Glaubhaftigkeit wurde zudem noch durch die Erinnerung des Betrachters gesteigert, der sich Dank Halles genauer und atmosphärischer Beschreibung des Kindseins nicht selten in diesen Bildern wieder fand. Dennoch sollen einige Darsteller hervorgehoben sein. So zum Beispiel Philipp Denzel, der mit seiner Rolle als Jonas zwar einen Bonus hatte, den Part des ungestillt Neugierigen aber auf authentische Weise gab. Es gelang ihm, den psychologischen Subtext seiner Figur verstehbar zu machen. Ebenso Butz Buse, dessen Wuschel vom Autor ebenso begünstigt wurde. Wuschel ist ein Kind, das die Vorgänge über weite Strecken nur körperlich und mimisch kommentiert. Er ist nicht bereit, die Stimme zu erheben, steht dem Treiben sprachlos aber keinesfalls anteilnahmslos gegenüber. Buse gestaltet sehr anrührend stellvertretend für alle Kinder Ängste und Sehnsüchte. Mit ähnlicher Intensität und Hingabe verleiht Nadja Kruse der Julie Gestalt. Als Opfer der Geschichte gelingt es Nadja Kruse, den Tod ihrer Figur lange vor dem Gewaltakt gegen Julie einzuläuten. Schließlich soll noch Ana Filipovic erwähnt werden. Ihre Anitra war ebenfalls ein Schlüsselfigur zum Verständnis der Geschichte und zwar eine von heftigsten Zweifeln und Ängsten gebeutelte. In ihrem Spiel und der Identifikation mit der Rolle ging Ana Filipovic bis an die Grenzen des Erträglichen, wohl auch für sie selbst.
Diese Inszenierung lebte jedoch nicht von der Einzelleistung einiger herausragender Darsteller, sondern vom guten Ensemblespiel, das eine Welt zur kindlichen werden ließ, und von der inszenatorischen Geschlossenheit. An szenischen Umsetzungen, die das Publikum durchaus in Erstaunen versetzen konnten, mangelte es dabei nicht.
Kindesmissbrauch und Kindesmord gehören schon lange zur Bestsellerliste der medialen Schlagzeilen. Der Verschleiß sollte nachdenklich machen, insbesondere, wenn man das am Vortag gefällte Urteil für Michel Jackson vor Augen hat. Monatelang wurde der anscheinende Leidensweg eines sichtlich degenerierten Wesens beschrieben, der des Kindesmissbrauchs angeklagt war. Ein Urteil ist gefallen, doch niemand kennt die Wahrheit. Vom vermeintlichen Opfer erfährt man nichts oder nur wenig. In Halles "Wäldchen" herrscht Wahrheit und sie wird uns in aufrichtigster Weise vermittelt. Damit ist einmal mehr der Beweis erbracht, dass die Wahrheit im Theater noch einen Hort hat, in der Welt draußen nur Spielball von Interessensvertretern ist.
Wolf Banitzki
DEA Das Wäldchen
von Jesper Halle
Philipp Denzel, Butz Buse, Ralph M. Küster, Claudia Buser, Eva Kölling, Lena Sabine Berg, Maik van Epple, Ana Filipovic, Martin Meißner, Nadja Kruse, Esther Urbanski Regie: Dirk Engler |