i-camp Kleinbürger nach Maxim Gorki


 

 

 

Parallelwelten

 

Ein Theaterstück und doch sind viele Welten darin enthalten. Maxim Gorki verfasste es als sein erstes Stück, uraufgeführt wurde es 1902. Maxim Gorki, ein Autodidakt mit umfangreichem Wissen und mit im Leben erworbener Bildung, war Revolutionär. Maxim Gorki proklamierte den sozialistischen Realismus mit seiner lebensechten allgemeinverständlichen Darstellungsweise, er wurde verfolgt, er wurde rehabilitiert, er wurde ausgezeichnet, er starb unter Überwachung durch geheime Staatsorgane. Sein Weg verlief wie der vieler anderer, und wie sich die Vorgänge doch insgesamt wiederholen. Die Gesellschaft befand sich im Umbruch. Die starren Strukturen des Zarenreiches bildeten einen Rahmen, in dem die aufrührerischen Gedanken mehr und mehr Verbreitung fanden. Ein Prozess war in Gang gekommen. Damals, zu dieser Zeit ...

 

Die Kleinbürger Bessemjonow nehmen Nil, ein Pflegekind auf. Nil, von anderer Art, findet in den aufkommenden Sozialistischen Ideen Lebensinhalt und –ziel. Sie bedeuten Hoffnung. Anders die beiden leiblichen Kinder Peter und Tatjana, die in der Enge der Spießbürgerlichkeit ersticken, lediglich Figuren des Nachvollzugs elterlicher Problemstellungen sind. In Polja, dem Hausmädchen findet Nil eine adäquate Frau. Tatjana, die sich in ihn verliebt hatte, verliert die letze Chance auf ein Entrinnen aus der Enge des geerbten Schicksals. Peter will alles, nichts wirklich und nur nicht werden wie sein Vater.

 

kleinBürger I
Die Servietten wurden kunstvoll gefaltet, der Tisch aufwändig dekoriert. Sie täuschen sich mit der Größe ihrer Teller über ihre Kleinbürgerlichkeit hinweg. Der für gesellschaftsfähig erklärten Genusssucht fröhnend wurden erlesene Weine kredenzt, kulinarische Köstlichkeiten serviert. Dazu gab man sich, den Stil betonend, in Habitus und Sprache klassisch. Regisseur Robert Spitz konzentrierte seine Fassung auf die Erfüllung von tradierten Formalismen, hinter denen immer wieder die Launen aufblitzten. Der intelligent aktualisierte und gekürzte Text gab ein Heute wieder, wie es bei den Geldbürgern zelebriert wird. Man gab sich eloquent, emotionslos, wettete, zockte, betrog. Die obsessiv gelebte Individualität des Einzelnen stand im Vordergrund in einer geschlossenen - auf Film dokumentierten - Gesellschaftsklasse.  

 

Kleinbürger II
Modernes Proletariat oder doch eher Kleinbürgertum? Die Grenzen verschwammen, wie sie es heute in der Realität auch tun. Der fleißige Vater mit längst überholten Ordnungsvorstellungen, die gebildeten Kinder im prekären Status, die Mutter vergeblich um Ausgleich bemüht - das sind scheinbare Klischees, die dennoch nur allzu lebendig sind. „Wo ist eure Wahrheit?“, wollte der autoritäre Vater voll streitbarer Emotion wissen. Immer wieder stellte er die Frage an Tatjana und Peter. Nur Nil sprach von den Werten, doch er sprach nicht mit dem Vater. Er sprach zum Publikum. Regisseurin Jutta Ina Masurath legte ihre Fassung breit an, zu breit und zu lang, könnte man meinen, wären da nicht die mittlerweile anhaltenden inakzeptablen Gegebenheiten, die dieser Verlauf zu übertreffen suchte. Längst sind die Grenzen des Erträglichen überschritten, und dennoch steht die Frage „Was ist eure Wahrheit?“ scheinbar unbeantwortet im Raum. Die Akteure verloren sich zwischen Egozentrik und konzeptloser Hysterie, packten ihre Koffer, traten ab. Der Vater starb auf dem Teppich in der Bühnenmitte und mit ihm seine Wahrheit.

 

Kleinbürger III
Ein leerer schwarzer Raum. Pjotr: „Ich schwimme in einem zähen schwarzen Fluss ... alles was ich anfasse zerfällt. ...“ Wie Gegenstände trieben die Figuren durch den leeren Bühnenkosmos der wirklichen Gegenwart. Dazwischen bildete feiner weißer Nebel einen unfassbaren Kontrast. Regisseur Claus Peter Seifert hatte das Stück auf einzelne ursprüngliche Situationen reduziert. Die Sinnlosigkeit allen Seins, die nur allzuleicht dem Alkohol verfällt. Die VaterIn, welche sich nur durch das Zitieren alter Ordnungen aufrecht halten kann. Die Frau, die sich eines jungen verunsicherten Mannes erbarmt, statt ihn zu lieben. Was blieb waren Grundkonflikte. Zaghaft suchten die jungen Erwachsenen Kontakt im Nebel der Gedanken und Gefühle. Nur Nil war lebendig. Offen erklärte er Polja seine Zuneigung. Offen und voll Enthusiasmus für eine freie Gesellschaft trat er ans Publikum ...

 

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Kleinbürger II

Anja Neukamm, Undine Backhaus, Philipp Künstler, Serpil Demirel,  Malika Kilgus, Stefan Krischke

© Silke Schmidt


Kleinbürger III

Stefan Krischke, Alexander Wagner, Dunja Bengsch, Claus Peter Seifert, Linda Sixt

© Silke Schmidt

 

Jede der Fassungen bestach durch ihren ausgeprägten Schwerpunkt, durch Bezug zu den anderen Auslegungen. Die künstlerischen Umsetzungen gelangen in vielfältiger Weise und entsprachen zudem stets dem Anliegen des sozialistischen Realismus. Außergewöhnliche Leistungen von Regie und Darstellern in solidarischem Zusammenwirken boten in jedem Moment ansprechende bewegende Bilder, auch war die fühlbare Ausgewogenheit im artifiziellen Prozess deutlich erfahrbar. Im Kern ein Abend mit revolutionärem Potential.

 

Kleinbürger und Proletarier. Es ist die bürgerliche Ordnung, die die Kultur einer Gesellschaft widerspiegelt und weiterträgt. Ihre Erscheinungsform prägt die Gesellschaft. Und hier und heute? Es sind die Fremden, die angefeindeten Fremden, denn sie sind noch gesund, sie leben ihre Kultur. Die mitteleuropäischen antiautoritär in ihrem Fernsehsessel Ausgewachsenen sind weder Bürger noch Proletarier, sie sind einfach nur bemitleidenswert desorientiert wie Peter oder verschult analysierende Beobachter wie Tatjana in diesen Inszenierungen. Sie sind die Gefangenen einer technokratischen wissensmanischen Zivilisation in der der Natur die Rolle des Ausgebeuteten zukommt. Es war nicht Gott, der verlautete: „Macht euch die Erde untertan.“ Nein, es waren naive alte machthungrige Stammesväter, die dies taten. Ihren doktrinären Worten folgen bedenkenlos Generationen um Generationen und die Aufhebung dieser „Wahrheit“ wäre der Beginn einer neuen Zeit. Denn der Verlust der Natur, deren Zerstörung, zerstört den Menschen, der nur in ihr und mit ihr zu seiner lokal angemessenen, einer lebenswerten Kultur finden kann.

 

Ein Werk, drei Stücke, jedes davon mit drei Dimensionen. Und, jedes stand für sich und alle bildeten eine Reihe, die gesellschaftliche Entwicklung und/oder gesellschaftliche Ebenen aufzeigten. Die traditionelle bürgerliche Ordnung an der protzig gedeckten Tafel im Film von Robert Spitz. Das chaotische Auseinanderdriften der patriarchalen Familie und damit der Kultur in der Version von Jutta Masurath. Die verlorene Figuren in ihrer Suche nach Zukunft von Claus Peter Seifert. Sein Nil rief klar laut engagiert: „Stehen wir auf! ... Stehen wir auf!“ ... allerdings ... vergebens. Die an Bildschirmkommunikation Gewöhnten (ehemals lebendiges Publikum) blieben gewohnheitsmäßig erstarrt auf den Sitzen. Überfordert. Verschenkt die Chance auf Begegnung, Bewegung, einen menschlichen Anfang. „Unglücklich sind wir. Dulden wir weiter.“, sprach Pjotr und ...

 

Ein ungewöhnlicher 3 x 3D-Theaterabend, der über Grenzen führte, die eigenen Grenzen erkennen ließ - künstlerisch in jeder Facette hochprozentig.

 

 

C.M.Meier


 

 

 

 


Kleinbürger

nach Maxim Gorki

3 Inszenierungen von Jutta Ina Masurath, Claus Peter Seifert, Robert Spitz

kleinBürger I
Undine Backhaus, Malika Kilgus, Philipp Künstler, Serpil Demirel, Johnny Müller, Linda Sixt, Stefan Krischke, Anja Neukamm, Malte Berwanger
Regie: Robert Spitz

 

Kleinbürger II
Stefan Krischke, Malika Kilgus, Serpil Demirel, Philipp Künstler, Malte Berwanger, Undine Backhaus, Anja Neukamm
Regie/Bühne: Jutta Ina Masurath

 

Kleinbürger III
Bettina Hamel, Claus Peter Seifert, Dunja Bengsch, Alexander Wagner, Linda Sixt, Stefan Krischke
Regie/Raum: Claus Peter Seifert

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