Kammerspiele Plattform von Michel Houellebecq


 


 Emotionale Wrestling-Veranstaltung

 

Würden die Helden aus Houellebecqs Texten beim Psychiater vorstellig werden, wäre die Diagnose voraussichtlich: Hypersexualität. So aber, verpackt in skandalträchtigen Zeilen und Bildern, die man nicht so leicht wieder aus dem Kopf bekommt, nennt man es Kunst. Sätze, die eigentlich für jeden „normalen“ Menschen schmerzhaft wären, werden bekichert, beklatscht und gefeiert. In was für einer Welt leben wir eigentlich, in der das Krankhafte die Dramaturgie schreibt? Klar, in einer krankhaften! Michel Houellebecqs Vorschläge sind durchaus ernst gemeint, wenn er einen Stab für den Sextourismus bricht und darin ein fabelhaftes Tauschgeschäft sieht. Zwar gibt er verschämt zu, dass er durchaus Skrupel hat bei dem Gedanken, doch diese überwindet er geschickt, in dem er sich gern als Tauschobjekt zur Verfügung stellt. „Ich werde auch gern mal benutzt. Ich wäre gern öfter Sexobjekt. In meinen Romanen erfülle ich mir diesen Traum.“ Und noch etwas erfüllte sich Michel Houellebecq mit seinen Romanen, er wurde reich und unabhängig von fremdbestimmter Arbeit. Für Houellebecq, selbst bekennender (oder kokettierender?) Kommunist, spielt das Geld eine große Rolle und prägt ganz sicher auch die Ästhetik seiner Werke. Der Skandal bringt Quote.

Eine vergleichbare Erscheinung, weil in der Charakteristik der Kunst in vielen Punkten deckungsgleich, ist die Malerin Tracey Emin. Mit „My Bed“ präsentierte sie 1998 ihr eigenes Bett „in seinem ganzen peinlichen Ruhm“. Umgeben von leeren Flaschen, verschmutzten Schlüpfern und bedeckt von einem befleckten Laken, präsentiert sich die Künstlerin über ihr (authentisches!) Bett als eine verdammte, als eine unsichere und unvollkommene Frau. Ihr Credo hat dabei wenig mit künstlerischen Inhalten zu tun: „Nie wieder arm sein!“ Das hat sie geschafft. Künstler wie Michel Houellebecq und Tracey Emin sind Apologeten des Neoliberalismus und deren schärfste Kritiker zugleich. Ihre Werke sind gleichermaßen abscheuerregend und anziehend, denn vom Voyerismus des Betrachters, der irgendwann die Neugier abgelöst hat, lebt es sich gut. Er ist eine Sucht, die nach der Droge Skandal schreit. Und wie bei allen Drogen muss die Dosis unaufhörlich erhöht werden.

In „Plattform“ beschreibt Houellebecq das ereignislose Leben des Beamten Michel, der zwischen Kulturministerium und Peep-Show pendelt, stets in der unberechtigten Hoffnung, der Tristesse seines Lebens und seiner Persönlichkeit zu entkommen. Der Erotomane entschließt sich, nach dem (vermutlich) gewaltsamen Tod seines Vater einen Urlaub zu machen. Er reist nach Thailand und wandelt auf den Pfaden des Sextourismus. Dort lernt er Valérie kennen, in die er sich nach seiner Rückkehr nach Paris verliebt. Tatsächlich erfährt er durch Valérie, was wirkliche Liebe ist. Bestandteil dieser Liebe ist auch eine weitestgehende sexuelle Befriedigung. Valérie ist erfolgreiche Tourismusmanagerin und mit diesem Thema konfrontiert, entwickelt Michel die Idee zu einer touristischen Plattform des Glücks. Als Valérie einem moslemisch motivierten Attentat zum Opfer fällt, stürzt Michels Leben wie ein Kartenhaus zusammen.

Stephan Kimmig brachte das düstere Werk über Einsamkeit und emotionale Verelendung auf die Bühne der Münchner Kammerspiele. Dabei bediente er sich nicht nur der Romanvorlage, sondern auch eines Interviews von André Müller mit dem Autor aus dem Jahr 2002. (Dramaturgie: Matthias Günther) Katja Haß schuf für die psychologische Vivisektion ein Bühnenbild, das eine psychiatrische Klinik vorstellte, ein Ort, an dem sich Houellebecq in seiner Jugend häufig aufhielt. Ein schicker weißer, transparenter Raumkubus auf der Drehbühne war in vier Räume aufgeteilt, die sich durch lichte Vorhänge nach außen, wie auch gegeneinander abgrenzen ließen. Diese Vorhänge waren zugleich Projektionsflächen für Videos und der direkten Videoübertragung aus dem Innern der jeweiligen Räume. (Video: Julian Krubasik) Die Bilder waren, je nach Beleuchtung deutlich und klar, oder diffus und gedoppelt, wenn die Projektionen in den Raum eindrangen und auf den hintereinander liegenden Flächen sichtbar wurden. Die Effekte waren von bemerkenswert bis erstaunlich.

In dieser „Klinik“ ereigneten sich die Szenen aus der Erinnerung, wie sie Michel auferstehen ließ. Er reflektierte sie aus seinem Bewusstsein heraus, oder in Befragungen mit der Ärztin und einem Interviewer. Getragen wurde der Abend vom Spiel Steven Scharfs, der den Michel gab. Scharf brillierte mit einem ganzen Kaleidoskop an Gefühlsregungen, wobei seine nüchtern-zynischen bis sehnsuchtserfüllten Regungen nie eine gewissen Komik entbehrten. Diese Komik entsprang seiner direkten, unideologischen Haltungen zu den Wahrheiten unserer Zeit. Warum sich mit Moral und Ethik aufhalten, wenn das Leben und die sexuelle Potenz begrenzt sind? Diese Bloßstellungen Michels richteten sich nicht nur gegen sich selbst, sondern gegen jeden, auch gegen das Publikum, und auch das stellte sich bisweilen in seinen Reaktion bloß. Das ist durchaus eine Qualität des Abend gewesen, wenngleich man als Zuschauer nicht wissen konnte, ob es beabsichtigt war oder nur einfach passierte.

Das Elend eines einzelnen Mannes wurde zum gesellschaftlichen Schleiertanz. Assistiert wurde Steven Scharf von Katja Herbers, die die Ärztin und auch die Valérie gab. Wenn Michel glaubhaft von Liebe sprechen konnte, dann wohl auch, weil Katja Herbers ein liebenswertes Frauenbild schuf. Aber sowohl Frau Herbers, als auch Wolfgang Pregler als interviewender Arzt blieben letztlich Nebenrollen, Stichwortgeber oder Fragensteller. Dass der Abend dennoch interessant und auch überraschend geriet, war neben der ausgefeilten Regie Stephan Kimmigs, der schauspielerischen Leistung Steven Scharfs geschuldet. Kimmigs Ästhetik war doppelbödig, ließ das Wesentliche immer durchscheinen und verließ sich nie auf Plattitüden. Vor der Leistung Steven Scharfs konnte man nur den Hut ziehen.

Dennoch muss darauf hingewiesen werden, dass gute Kunst sich durch ein stimmiges Verhältnis von Inhalt und Form auszeichnet. Den Inhalt auf den Prüfstand gebracht, wird sich keine einheitliche Diagnose stellen lassen. Hier tun sich weltanschauliche Klüfte auf. Sich dem Weltbild Michel Houellebecq anzuschließen, dürfte manchem Besucher schwer fallen. Um so bedenklicher war, dass die Inszenierung zu einer enormen, fast frenetischen Zustimmung verführte. Gezeigt wurde doch immerhin eine menschliche Hölle, die keinen Grund zur Hoffnung ließ und die zudem übermäßig mit abstoßenden Vulgarismen gespickt war. Wer da glaubte, zu einem psychologischen Geschlechterspiel aufzubrechen, fand sich alsbald in einer aggressiven emotionale Wrestling-Veranstaltung wieder. Die entsetzlichste Einsicht des Abends, vorausgesetzt man hatte sich mit dem Autor auseinandergesetzt und kannte ihn als Menschen, war, dass Michel Houellebecq aufrichtig und wahrhaftig ist. Er meint, was er sagt, und er sagt, was er in der heutigen Gesellschaft fühlt. Die polarisierende Literatur Houellebecqs liebt man oder man hasst sie. Dazwischen gibt es wenige Möglichkeiten. Würde man den Theaterapplaus, wie beim Eiskunstlauf in Pflicht- (Inhalt) und Kür- (Form) Noten aufschlüsseln, hätte es das Publikum, vor allem aber der Kritiker leichter, sich beim Applaus eindeutig zu verhalten. So blieb nur oder immerhin die Hoffnung auf eine kathartische Wirkung des Abends.

 

Wolf Banitzki

 

 

 


Plattform

von Michel Houellebecq

Aus dem Französischen von Uli Wittmann

Katja Herbers, Wolfgang Pregler, Steven Scharf

Regie: Stephan Kimmig