Kammerspiele Schande nach J. M. Coetzee


 

 

Apartheid und kein Ende

Der weiße, 52-jährige Literaturprofessor David Lurie lebt und arbeitet in Kapstadt. Er ist zweimal geschieden, seine einzige Tochter Lucy, sie ist lesbisch, lebt gemeinsam mit der Lebensgefährtin auf einer Farm auf dem Land. Lurie, der dem Leben weitestgehend distanziert und zynisch gegenüber steht, befriedigt jeden Donnerstag seine sexuellen Bedürfnisse bei Soraya, einer Afrikanerin, die er bei einem Escort Service bucht. Doch dann läuft ihm die junge Studentin Melanie Isaacs über den Weg und entfacht ein „Feuer der Leidenschaft“. Seine sexuelle Annäherung geschieht lediglich mit Duldung der unbedarften Partnerin. Als die Geschichte ruchbar wird, David Lurie keinerlei Reue zeigt, verliert er seine Anstellung. Er wird exemplarisch unehrenhaft entlassen. Er erkennt zwar seine Gefühle und auch seine Verfehlung, gegen die Regeln verstoßen zu haben, an, unterwirft sich aber nicht dem ideologisierten Femegericht, das exemplarisch an ihm vollzogen wird. Er versteigt sich sogar soweit, die eigene Existenz im Camusschen Sinn weitestgehend als absurd zu definieren. Doch darauf hin intervenierte sein Richter lautstark: „Wollen Sie, dass mein Leben keinen Sinn hat?“ Nachgiebigkeit ist nicht Luries Stärke.

Er kehrt Kapstadt den Rücken und geht zu seiner Tochter aufs Land. Dort muss Lurie erkennen, wie sich die Verhältnisse gewandelt haben. Der schwarze Nachbar Petrus ist inzwischen Landbesitzer geworden, hat zwei Ehefrauen und seine Wirtschaft läuft so gut, dass Lurie bei ihm aushilft. Doch dann wird die kleine Farm von drei jungen Männern überfallen und Lucy vergewaltigt. Lurie selbst wird niedergeschlagen, mit Spiritus übergossen und angezündet. Er erleidet Verbrennungen, aber auch seelische Traumatisierungen, denn Lucy weigert sich, Auskunft darüber zu geben, was ihr tatsächlich widerfahren ist. Ein Rechtssystem und eine funktionierende Strafverfolgung gibt es ohnehin nicht. Bev Shaw, eine Freundin, die eine Tierklinik betreibt und ihre Zeit vornehmlich damit verbringt, Tiere einzuschläfern, reicht Lurie helfend die Hand und gibt ihm Gelegenheit, Buße zu tun.  Als ruchbar wird, dass die Vergewaltiger aus der Familie von Petrus stammen, drängt Lurie auf Strafverfolgung. Doch dann bekennt Lucy, aus der Vergewaltigung schwanger zu sein. Sie weigert sich standhaft, das Kind abzutreiben. Begründung: „Ich bin eine Frau, David.“

David Lurie indes flieht immer wieder in seine absurd anmutende Arbeit. Er versucht, eine Oper zu komponieren, dessen Held der romantische Dichter Lord Byron ist. Ziel dieser seltsam und realitätsfremd erscheinenden Bemühungen ist die Hoffnung, dass „irgendwo aus dem Chaos von Klängen eine einzige authentische Note der ewigen Sehnsucht aufsteigen wird, wie ein Vogel“. Der Mann, der Kommunikationswissenschaften lehrte, hat längst erkannt, „dass Englisch ein ungeeignetes Medium für die Wahrheit in Südafrika ist“.

David Lurie ist verzweifelt und er ist dies umso mehr, als er erfahren muss, dass seine Tochter das Angebot von Petrus, sie zu heiraten und sie somit unter seinen Schutz zu stellen, annimmt. Sie wird damit die (Stief-)Mutter ihres Vergewaltigers. Lucy lehnt es ab, das Land zu verlassen oder wenigstens nach Kapstadt zu ziehen. Sie betrachtet ihren Kompromiss als „eine gute Ausgangsbasis für einen Neuanfang“. Dieser Neuanfang bedeutet zugleich, „von ganz unten anzufangen: (…) Ohne Papiere, ohne Waffen, ohne Besitz, ohne Rechte, ohne Würde“. Wer glaubte, die Apartheid in Südafrika hätte ein Ende gefunden, wird spätestens jetzt eines Besseren belehrt. Lurie schmettert es Petrus ins Gesicht, wenn er sinngemäß behauptet, das sie auch dann noch weitergehen wird, wenn die beiden längst nicht mehr sind.

„Schande“ oder „Disgrace“, wie der Roman des Nobelpreisträgers John Maxwell Coetzee heißt, was allerdings auch mit „Ungnade“ übersetzt werden könnte, ist erschütternd. Er spiegelt nicht nur das Dilemma eines ganzen Kontinents wieder, er verheißt ebenso dessen düstere Zukunft. Luk Perceval, tief beeindruckt vom Werk, brachte es nun auf die Bühne der Münchner Kammerspiele. Seine Inszenierung wurde vom Premierenpublikum begeistert aufgenommen. Die Begeisterung ändert aber nichts an der Tatsache, dass viel, zu viel vom Roman und seiner Komplexität auf der Strecke geblieben ist.

Die Bühnenfassung kann höchstens als Exzerpt genommen werden, das informativen und weniger aufklärenden Charakter hatte. Die Geschichte gerinnt zu einem groben Holzschnitt, welcher die subtile Kritik an den Zuständen der Postapartheid überschattet und somit die traurigen Versuche, „Recht“ durch Psychoterror und ideologischen Fundamentalismus zu schaffen, verharmlost. Der Betrachter bekommt nur eine blasse Ahnung davon, dass in der durch archaisches Stammesrecht organisierten südafrikanischen ländlichen Gesellschaft Vergewaltigung ein legitimes Mittel der Unterwerfung ist, welches auch zukünftig praktiziert werden wird. Der Tod ist in Südafrika allgegenwärtig, denn das Elend und die Unbildung der breiten Bevölkerungsschichten ist keineswegs gemindert worden.

Auf der von Katrin Brack gestalteten Bühne war eine ganze südafrikanische Gesellschaft aufmarschiert. Sie wurde von buntbekleideten, schwarzhäutigen Kostümpuppen bevölkert. Das Bild war schon ein wenig anachronistisch, denn, wie unlängst die Trauerfeierlichkeiten um Nelson Mandela zeigten, geht jeder Vorgang in Südafrika mit aufwendiger Körperlichkeit und Rhythmus einher. Hier waren die Menschen eingefroren und es stellte sich die Frage nach der Bedeutung des recht plakativen Bildes. Aus diesem Labyrinth aus menschlichen Figuren traten die Protagonisten hervor an die Rampe und agierten. Allen voran Stephan Bissmeier als David Lurie. Da es sich um eine Romanadaption handelte, hatten die Texte, das wird hier nicht zum ersten Mal beklagt, narrativen Charakter. So wurde weitschweifig erzählt, ohne dass wirklich dramatische Spannung aufkam. Zwischendrin gab es dann doch Spielszenen, die aufregten, vorwiegend wenn Brigitte Hobmeier in Erscheinung trat. Ihre Lucy war ein in sich zerrissenen Wesen, traumatisiert und, um den poetischen Begriff zu bemühen: zu Grunde gegangen. Sie erstand auch nicht wieder auf wie Phönix aus der Asche, sondern arrangierte sich unter Verzicht auf menschliche Würde. Das war entsetzlich und nur schwer auszuhalten. Marginal blieben Darsteller wie Marc Benjamin (Melanie Isaacs´ Freund), Barbara Dussler (Melanie und deren Schwester Desiree) oder auch Angelika Krautzberger (Frau Isaacs ohne erkennbare Persönlichkeit). Selbst der großartigen Annette Paulmann gelang es nicht, als Bev Shaw einen wirklich bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Wolfgang Pregler immerhin schaffte es, sich für einen Augenblick aus der vorherrschenden Einförmigkeit zu lösen, als er am Ende sein Wertesystem definierte und man den Eindruck bekam, hier hatte jemand den Fall des weißen Apartheidsystems schlichtweg verpennt. Die Verkörperung des Familienoberhauptes der Isaacs entbehrte nicht einer gewissen Komik und erklärte zugleich die Apathie Angelika Krautzbergers in der Rolle der Ehefrau.

Wer den Roman aufmerksam gelesen oder auch in Percevals Inszenierung zugehört hatte, dem blieb die Häufung der testamentarischen Namen nicht verborgen. Isaacs und David, aber auch Petrus, für Jesus der Fels, auf dem er seine Kirche errichten konnte, kamen vor. Der Vergewaltiger Lucys hieß Pollux. Pollux, griechisch Polydeukes, war einer der Dioskụren (Zeussöhne). Tatsächlich ließ der aus der einstigen Niederländischen Kolonie Surinam stammende Felix Burleson als Petrus keinen Zweifel daran, dass die künftige Welt nach seinen Vorstellungen gestaltet werden würde. Sein physischen Präsenz und seine Stimmgewalt waren bemerkenswert. Die 1989 in Uganda geborene Lorna Ishema verlieh der Inszenierung durch ihre Darstellung der Soraya einige Authentizität in Fragen des Umgangs mit den schwarzen Frauen in Südafrika, durch ihre Darstellung der Ehefrau Petrus´ auch ein wenig Glanz. Aron Amoatey als der von Lurie angeklagte jüngste Sohn von Petrus befriedigte mit einem Ausbruch afrikanischen Temperaments eher die die ethnokitschigen Vorurteile der Weißen.

Nein, die Inszenierung überzeugte angesichts der großartigen Romanvorlage nicht. So galt der Premierenapplaus eher der gewaltigen Geschichte von J. M. Coetzee, die Luc Perceval ohne nennenswerte Bei- oder Zugaben als Light Version auf die Bühne brachte. Den Zuschlag bekommt also in diesem Fall unbedingt der Roman.

 

Wolf Banitzki

 

 


Schande

nach J. M. Coetzee

Aaron Amoatey, Marc Benjamin, Stephan Bissmeier, Felix Burleson, Barbara Dussler, Brigitte Hobmeier, Lorna Ishema, Angelika Krautzberger, Annette Paulmann, Wolfgang Pregler

Regie: Luk Perceval