Liliom K
Kammerspiele Liliom von Ferenc Molnár
Und „Liliom“ zum Dritten!
Was kann einem Autor besseres passieren, als wenn sich die Kritik über seine Rolle in der (Theater- und Literatur-) Geschichte in die Haare gerät. Die Mäkler unter ihnen sind längst in die ewigen Jagdgründe eingegangen und vergessen. Die Großen unter den Kritikern aber haben es ganz im Molnárschen Sinn gerichtet. Während Friedrich Thorberg als Verteidiger des, wie er meint, „Brillant-Savarin des ungarischen Lustpiels“ auftrat, wies ihm Robert Musil zudem die Rolle des Übersetzers für ein „durch Lehár verwöhntes Publikum“ zu, dem er die Welten „Dantes, Goethes oder Beethovens“ nahebrachte. Thorbergs Urteil ist eine kraftvolle und letztgültige Verteidigung: „Die Armen im kritischen Geiste aber, die in Franz Molnár, immer noch (1957), nichts weiter sehen wollen als den witzigen Bühnenroutinier …- sie werden alsdann, steifbeinig auf und ab, im himmlischen Trottelgärtlein promenieren, Arm in Arm mit jenen, die in Nestroy zeitlebens nichts weiter als einen Possenreißer gesehen haben.“ (Aus Georg Hensel: Spielplan.)
Nach einer desaströsen Uraufführung in Budapest im Jahr 1909, trat das Stück nach der Wiener Aufführung am Theater an der Josefstadt 1912 in der Bearbeitung von Alfred Polgar einen wahren Siegeszug an. 1934 wurde das Stück von Fritz Lang verfilmt und Richard Rodgers brachte es unter den Titel „Carousel“ als Musical heraus. Allein, den Zuschlag für eine Vertonung als Oper erhielt Puccini von Molnár nicht. Aus gutem Grund: „Wenn Sie mein Stück vertonen, wird alle Welt von einer Puccini-Oper sprechen. So aber bleibt es ein Stück von Molnár.“ Über ein Jahrhundert lang erschien das Stück immer wieder auf den Spielplänen in aller Welt. In München kam es nun zum dritten Mal in sieben Jahren auf die Bühne. Am 18.01.07 hatte Christine Eders Inszenierung für das Münchner Volkstheater Premiere. Ihr gelang eine ansprechende Interpretation voller Sinnlichkeit. Florian Boesch hingegen scheiterte mit seiner am 12.03.2010 im Residenztheater aufgeführten Inszenierung weitestgehend. Es mangelte dem vordergründig philosophischen Exkurs an Fleisch und Blut. Beiden Inszenierungen war eine starke Nähe zum Realismus eigen. Am 8. März unterbreitete Stephan Kimmig dem Münchner Publikum sein Angebot der Interpretation und das Publikum feierte seine Inszenierung – zu Recht!
Wer meint, er könne in Molnárs dramatischer Vorlage eine Vielzahl möglicher Lesarten finden, der irrt. Die Geschichte spielt auf einem Vorstadtrummelplatz und die Protagonisten sind so genannte „kleine Leute“, Menschen, deren Aufstiegsmöglichkeiten sehr begrenzt sind, insbesondere dann, wenn sie nicht bereit sind, sich selbst zu verleugnen. Liliom ist so einer. Bevor es sich verbiegt, sich seinen Stolz abkaufen lässt, steigt er aus. Doch dieser Ausstieg aus den ökonomischen und sozialen Regeln hat seinen Preis. Als Julie, die den Ausstieg gemeinsam mit Liliom vollzogen hat, schwanger wird, sieht sich der Zampano in der Verantwortung. Er versucht, angestiftet vom Kriminellen Fiscur, verzweifelt einen Raub. Als der misslingt, rammt er sich die Waffe selbst in die Brust. Nach 16 Jahren Fegefeuer darf er noch einmal auf die Erde zurück, denn Selbstmörder haben in ihrem Leben nie alles gänzlich erledigt. So begegnet Liliom seiner Tochter. Er versucht sich ihr zu nähern, doch sie weist ihn ab. In Zorn geraten schlägt er sie. Einer wie Liliom kann nicht aus seiner Haut. Soweit Molnárs Geschichte.
Stephan Kimmig definierte dieses „nicht herauskönnen aus der Haut“ als soziale Determinante und klagt damit eine Gesellschaft an, die in zunehmendem Maße soziale Ungerechtigkeiten schafft, die zudem in ebenso zunehmendem Maße gesetzlich verankert werden. Was noch vor wenigen Jahren überwunden schien, zeichnet sich immer deutlicher wieder ab: Die Existenz einer Klassengesellschaft. Tatsächlich hatte sie nie aufgehört zu existieren, doch für eine kurze Zeit der sozialen Marktwirtschaft gelang es, dieses hässliche Bild zu kaschieren. Kimmigs Vorstellungen vom Stück sind klar, einfach und einleuchtend. Dennoch gelang ihm eine Inszenierung, die überzeugender war als viele vorangegangenen. Dank seiner Ästhetik traf der Betrachter nicht nur auf formale Vertreter von sozialen Schichten, sondern auch auf sensible, berührbare, verletzliche, sehnsuchtsvolle, um Liebe und Existenz ringende Individuen.
Die Bühne von Eva-Maria Bauer war so simpel wie eindrucksvoll: Ein schwarzer Bühnenraum und darin, wie ein faszinierender Planet, eine riesige Discokugel. In diesen Raum, der nicht vorgab irgendwo irgendwas zu sein, platzierte der Regisseur weiträumig sein kleines Menschenuniversum. Steven Scharf als Liliom übte Tanzschritte. Er war sich bewusst, dass seine physische Präsenz das Geschäft boomen lässt, insbesondere die jungen Mädels anzieht. Groß, sehr groß, stark und schön ist er. Das wusste auch Frau Muscat, die Besitzerin des Ringelspiels. Wiebke Puls ließ keinen Zweifel daran, dass Liliom ihr auf mehr als eine Weise dienlich war. Verwegen ausschreitend eröffnete sie einen Revierkampf. Ihr gegenüber opponierte eine berührend naive Anna Drexler (Julie) und eine streitbare und angriffslustige Marie Jung (Marie). Der Vorwurf: Liliom hatte Julie den Arm um die Hüfte gelegt. Julie, ausgestattet mit einem natürlichen Gerechtigkeitssinn, setzte sich zur Wehr. Freundin Marie, auf jedermanns Recht pochend, verteidigte sie. Die Geschichte eskalierte und als Frau Muskat sie des Platzes verwies, fühlte sich Liliom ebenfalls angegriffen. Ohne auf besondere Weise Partei ergreifend, warf er stolz seinen Job hin. Steven Scharf gab sich brutal, um sich äußerlich zu behaupten. Er war ebenso voller liebenswerter Zärtlichkeit, wenn sein Panzer aufbrach. Das geschah immer dann, wenn er sich in höchster seelischer Not befand und die Gesellschaft floh.
Das Besondere an Stephan Kimmigs Inszenierung war, dass er jedes Gefühl unmittelbar physisch umsetzen ließ. Sämtliche Darsteller arbeiteten sowohl mit Mitteln der Pantomime, wie auch mit denen des Tanztheaters. Dabei blieb es doch immer Sprechtheater. Nur selten gewann die tänzerische Choreografie überhand, beispielsweise, wenn Steven Scharf und Anna Drexler gegen das Zerrbrechen der Liebe ankämpften. Immer wieder überraschten die Darsteller in den Nebenrollen mit großartigen Momenten. Christian Löbers Wolf Beifeld, ein opportunistischer und zielstrebiger Beamter, Ehemann von Marie, offenbarte mit minimaler Gestik und Mimik die innere Zerrissenheit und das Verlorensein eines Menschen, der stets den sicheren Hafen suchte und plötzlich seiner eigenen abgründigen Ohnmacht gegenüberstand. Gelegentlich waren die Mittel auch von faszinierender Einfachheit. Als der von Wuchs eher kleine Stefan Merki den unüberwindbaren Kassierer Linzmann spielte, überhöhte man ihn durch Stelzen. Das war komisch, aber auch sinnfällig.
Überhaupt gab es viele komische Momente, ohne dass dabei die Komik die Bitternis der Geschichte zukleisterte. Vielmehr verstärkte sie das Moment der nicht stattfindenden, weil unmöglichen Erlösung. Als Steven Scharf mit der sehr männlich wirkenden Katja Bürkle, die den Fiscur gab, um die zu erwartende Beute aus dem noch bevorstehenden Raubzug spielte, entglitt ihm die Selbstkontrolle so vollkommen, dass einem das Lachen im Hals unweigerlich stecken blieb. Am Ende griff Kimmig noch in den Ablauf des Stücks von Molnár ein. Als Liliom seiner Tochter begegnete, schenkte er ihr gleich einen ganzen Stern, die Diskokugel. Doch sie ignorierte die Geste und das Geschenk, denn die Mutter hatte ihr verboten, von fremden Männern etwas anzunehmen. So wurde nicht geschlagen, sondern ein großes poetisches und trauriges letztes Bild geschaffen.
Die Darsteller zeigten herausragendes Theater und Stephan Kimmig ermöglichte es ihnen durch intelligente und künstlerisch weit greifende Spielleitung. Eine Entscheidung für diese Inszenierung fällt nicht schwer: Und „Liliom“ zum Dritten! Kimmigs Arbeit bekommt vorbehaltlos und ohne Einschränkung den Zuschlag.
Wolf Banitzki
Liliom
von Ferenc Molnár
Katja Bürkle, Anna Drexler, Walter Hess, Marie Jung, Christian Löber, Stefan Merki, Wiebke Puls, Steven Scharf
Regie: Stephan Kimmig