Totally Happy

Kammerspiele Spielhalle Totally Happy von Tian Gebing


 

 

Zum Thema Masse

Katja Bürkle betrat das mit einem leichten, seidenartigen weißen Stoff bedecktes Bühnenquadrat (Bühne: Tian Gebing und Teresa Vergho) und lud die Anwesenden mit suggestiver Stimme zu einer Reise ein. Man möge sich zurücklehnen und auf die Atmung achten, die ruhig wird, ebenso wie die Glieder schwer werden. Der Scheinwerfer über ihr, in dessen Spot sie stand, begleitete, indem sich der Lichtkegel rhythmisch auseinander dehnte und wieder zusammenzogt, ihre und die Atmung der Zuschauer. Die Reise ging durch München, wo man an der Feldherrnhalle einen Aufmarsch mit Fackeln erlebte. Dann erhob man sich in die Lüfte und flog, fantastische Landschaften unter sich wahrnehmend, nach China, wo sich eine große Menschenmenge um den Premierminister Zhou Enlai scharte. Massen von Menschen wogten, bauschten sich auf und verschwanden wieder. Es begann zu regnen und bald regnete es so stark, dass man sich unter Wasser befand. Fischschwärme zogen vorüber und Fragen drängten sich auf, beispielweise, ob Landschaften Menschen prägen würden oder ob vieles mit allem verbunden sei. Die letzte Frage war: „Geht es dir gut?“ Dann holte Frau Bürkle unvermittelt eine Pistole hervor und schoss sich in den Kopf.

Eine Schar Helfer, Katastrophenhelfer, in weißen Schutzanzügen und Gesichtsmasken überspülte die Bühne und wuselte umher, ohne dass ein Plan erkennbar war. Jeder hatte scheinbar seine Aufgabe. Kein Einzelwesen war dabei durch sichtbare Attribute festzumachen, das Einzelwesen blieb gesichtsloser Bestandteil der Masse. Dann wurden Dinge, Konsumgüter, verteilt und willkürlich umverteilt, was zu Irritationen und zu Aggressionen führte. Selbst als die Gestalten Gesichter bekamen, die Kleidung sich immerhin geringfügig unterschied, blieben sie eine Masse. Es geschah auch, dass die Masse durch gesellschaftliche Adhäsions- oder Anhangskräfte zusammenklumpte und nur durch äußere Einwirkung wieder voneinander getrennt werden konnten.

Dann berichteten einzelne Individuen abwechselnd von mythischen Wesen, die so starke Eigenarten aufwiesen, dass sie sich unmöglich für Massen eignen konnten. Doch es waren „nur“ mythische Wesen. Shanhaijing – Klassiker der Berge und der Meere aus längst vergangenen Zeiten, in denen es noch keine „Masse“ gab.

Man ging zu politischen Statements über: „Masse ist Rache am Unrecht der Jahrhunderte. (…) Masse ist zerstampfter Acker, Masse ist verschüttet Volk. (…) Mensch in Masse befreien, Gemeinschaft in Masse befreien.“ (Ernst Toller: Masse-Mensch, 1920) Dann berichtete Marie Jung verzweifelt, dass ihr, einer Schülerin, beim „Ableben des Führers“ die Tränen versagt blieben und sie sich wegen der Kakophonie der Veranstaltung gegen einen Lachkrampf, der sie zu überwältigen drohte, wehren musste. Ihre Erzählung wurde immer wieder unterbrochen von einer Bibliografie zu Thema Mensch und Masse und den daraus resultierenden Auswüchsen wie Massensuizid, Opfer der Kulturrevolution oder Ungehorsam und psychische Deformationen.

Im Kapitel Definitionen erführ der Zuschauer, dass „Masse“ bedeutet: „2 Menschen pro Quadratmeter“ (Bayerische Versammlungsstättenverordnung) oder dass „Die Massen die wahren Helden sind“ (Mao Zedong). Elias Canetti hielt in seinen Werk „Masse und Macht“ fest: „Die Masse im Zustand der Angst will beisammen bleiben.“ Der kollektive Suizid einer ganzen Familie im Jahr 2059 wird genau von diesem Gefühl dominiert und so überschritten sie die Schwelle in den Tod in einem gemeinsamen Bewusstsein des Befreitseins aus der Unmenschlichkeit des Massendaseins.

Regisseur Tian Gebing, der mit diesem Projekt Künstler der Münchner Kammerspiele und des Paper Tiger Theater Studio Peking zusammenführte, behandelte mit „Totally Happy“ ein ureigenes Thema: „Ich wuchs in der verrücktesten Zeit der Massenbewegung in China auf. Jeder, ohne Ausnahme, wurde von diesem Massenstrom fortgeschwemmt. Seit meiner Kindheit wurde mir gesagt, ich müsse eine kleine Schraube in der großen, revolutionären Maschinerie werden.“

Tian Gebing ist mehr als ein Theaterregisseur; er ist auch Aktions- und Konzeptkünstler und was die Zuschauer am 2. Oktober in der Spielhalle der Münchner Kammerspiele zu sehen bekamen, war denn auch keine Theaterinszenierung im herkömmlichen Sinn. Die Performance folgte keiner zwingenden, noch sichtbar schlüssigen Dramaturgie. Szenen des Erzähltheaters wurden von Tanztheater abgelöst, deren Bewegungsabläufe dem asiatischen Tanz entlehnt waren. Dass die Schauspieler der Kammerspiele sowohl mit der chinesischen Sprache wie auch mit den akrobatischen Tanzabläufen einige Probleme hatten, nutzte der Regisseur für humorige Ansätze und setzte sie entsprechend um. Den chinesischen Kollegen ging es naturgemäß nicht anders. Es waren gerade auch die aus der Fremdartigkeit der Kultur und der Gestaltungsvorgänge resultierenden Momente der Überforderung, die den theatralen Vorgängen eine wohltuende Natürlichkeit verliehen.

Zumindest für das deutsche oder europäische Publikum war diese Inszenierung, mit der man auch in China auftreten wird, eine Herausforderung. Es ist vielleicht der Unkenntnis der Traditionen des chinesischen Theaters geschuldet, dass zumindest eine Frage offen blieb: Wie wirkt diese Darstellung und dieses Konzept, das für den deutschen Zuschauer an einigen Stellen ein wenig rätselhaft blieb, in China? Für den einheimischen Theatergänger blieb vieles Fragment, etliches befremdliche Deklamation und manches exotisch anzuschauende, aber schwer entschlüsselbare Choreografie.

Dennoch war es ein spannender Abend, denn das Thema Masse und Gleichschaltung von Massen, in Deutschland nicht unbedingt das vordringlichste, weil hier eher das gesellschaftlich relevante Thema Individualismus ansteht, könnte in China durchaus seinen Ursprung haben. Das Land mit der größten Bevölkerung hatte eine Diktatur über sich ergehen lassen müssen, in dem die Eingliederung des Individuums in die Masse über mehr als ein halbes Jahrhundert oberstes Gebot war. Die Verweigerung, der Protest dagegen hatte existenzielle Konsequenzen. Gerade in der vorletzten Szene, in dem fiktionalen Suizid einer ganzen Familie offenbarte sich die ganze Entsetzlichkeit einer solchen Staatsdoktrin. Über diese Problematik nachzudenken, auch wenn wir scheinbar nicht davon betroffen sind, kann nicht schaden, denn in jeder Gesellschaft gibt es Tendenzen, die Menschen gleichzuschalten. Der gleichgeschaltete Mensch ist besser zu steuern und zu manipulieren. Ihm wird (und wurde in allen Diktaturen) versprochen, dass ihn die Hingabe, das Aufgehen in der Masse „Totally Happy“ macht. Die Vermassung des Individuums bedeutet Diktatur. Ein Blick auf die mediale und auf die virtuelle Welt beweist das hinlänglich. Das Premierenpublikum war sehr angetan von dieser Arbeit, mit der Intendant Johan Simons einen weiteren Schritt zur Internationalisierung des Theaters gegangen ist.

 

Wolf Banitzki

 


Totally Happy

Eine Koproduktion mit Paper Tiger Theater Studio Peking und dem Goethe-Institut China

von Tian Gebing

Katja Bürkle, Lian Guodong, Gu Jiani, Marie Jung, Christian Löber, Edmund Telgenkämper, Kristof Van Boven, Liu Xiangjie, Wang Yanan, Gong Zhonghui

Regie: Tian Gebing

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