Geschichten aus dem Wiener Wald K

Kammerspiele Geschichten aus dem Wiener Wald von Ödön von Horváth


 

 

Die Gesellschaft erodiert im Walzerschritt

Am Tag ihrer Verlobung gibt sich Marianne, Tochter des Zauberkönigs, wie sich der Scherz- und Zauberartikelhändler selbst nennt, hin. Doch nicht ihrem Verlobten, dem tumben Metzger Oskar, sondern dem Spieler und Gigolo Alfred. Der Akt hat Folgen. Die Verlobung platzt, Marianne wird verstoßen und schwanger. Das Zusammenleben der beiden endet nach einem Jahr in einer Misere. Alfred, inzwischen Kosmetikvertreter, fühlt sich zu Höherem berufen und kehrt Marianne den Rücken. Die muss den Ihrigen in einem „international renommierten“ Varieté als „künstlerische Aktskulptur“ zur Schau stellen. Das Kind namens Leopold, nach dem ablehnenden Großvater benannt, wird zu Alfreds Mutter in die Wachau abgeschoben, wo es von der garstigen Großmutter weiterbefördert wird, nämlich zum Herrgott. Als Marianne, einer böswillige Verleumdung zur Folge, wegen des Verdachts auf Diebstahl ins Untersuchungsgefängnis muss, ist sie endgültig gebrochen und kehrt in die Metzgerarme Oskars zurück. Ihren Vater, den Zauberkönig, ereilt ein Schlaganfall, als er vom Tod des Enkels erfährt, den er gerade akzeptieren gelernt hatte und auf den er sich ehrlich freute.

Stephan Kimmig inszenierte das emotionsüberfrachtete Rührstück distanziert und mit dem kühlen Blick des Analytikers. Er vermied dabei jeglichen Befindlichkeitsausdruck, überhöhte die Szenen mimisch artifiziell und ließ seine Akteure sprechen, als führten sie keine Dialoge sondern permanente Selbstbehauptungen. Bereits beim Betreten des Foyers wurde der Besucher mit Walzerklängen und tanzenden Senioren empfangen. Was anfangs mit Verblüffung und Belustigung registriert wurde, schlug bald in quälende Belästigung um. Als sich endlich der eiserne Vorhang zur Vorstellung hob, die Walzerklänge verstummten, ging ein Aufatmen durch die Reihen. Doch Regisseur Kimmig beließ es nicht bei dieser seltsam anmutenden Introduktion, sondern verfolgte sein Konzept, die Handlung in rhythmischen und auch arhythmischen Tanz zu transferieren, konsequent. Sichtbar wurde die innere Zerrissenheit der einzelnen Figuren, wenn sie sich bemühten im Rhythmus der Masse zu verbleiben. Doch immer wieder schlugen ihre Bemühungen fehl und sie verfielen in spastisch anmutende Bewegungen.

Katja Haß hatte die Bühne mit einem hölzernen Tanzboden versehen, der drehbar war und der an die ärmlichen „Tanzpaläste“ erinnerte, in denen sich das Volk billig amüsierte. Die Musik, so verbissen sie auch Harmonie einzufordern versuchte, konterkarierte die auszutragenden Konflikte. Der Vater verstieß „wegen der Moral“ die Tochter; der egoistische, hypertrophe Mann verriet die vorgeblich geliebte Frau; die bösartige Großmutter stellte den Säugling jede Nacht in den kalten Durchzug, bis dieser endlich am Fieber verstarb. Doch am Ende entstand wieder so etwas wie eine heile Welt, eine Welt aus Bigotterie und der gnadenlosen Unterdrückung eines individuellen Glücksanspruchs. Oskar, proper-blöde von Stefan Merki gespielt, sollte Recht behalten, als er Marianne drohte: „Du entgehst meiner Liebe nicht!“ Am Ende resignierte sie und offenbarte schlicht: „Ich kann nicht mehr.“ Sie hatte das für sie arrangierte Ziel erreicht. Der Rest war Grauen.

Stephan Kimmigs Inszenierung brach radikal mit einer scheinbar unausweichlichen Gefühlsduselei, die zweifelsohne unterhaltsam sein kann, sich in bestem Wiener Schmäh ergeht und dabei in der Wirkung über ein ehrliches Schaudern nicht hinaus gelangt. Kimmigs Sicht war existenzieller und endgültiger. Wenn Peter Brombacher in seiner lächerlichen Verkleidung als Großmutter das Lied von der Wachau sang, säuerte der Heurige und ätzte den Lack von der bürgerlichen Fassade. Ausbrüche wahrhaftigen Mitgefühls nahmen zerstörerische Züge an. So brach Sylvana Krappatsch als Valerie unter dem Druck der verdrängten Emotionen schlichtweg zusammen. Doch ihre Auferstehung führte sie schnell zurück in die bürgerliche Scheinwelt, in der sie durchaus einen Preis hatte und den sie auch lebensgierig einforderte. So kehrte die verwelkende Schönheit der Wahrheit, die sie gerade noch so unbarmherzig gefällt hatte, den Rücken. Man muss ja schließlich irgendwie weiterleben...

Max Simonischeks Alfred war die erbärmlichste Figur im kleinbürgerlichen Panoptikum. Seine pseudophilosophischen Argumente sind selbst heute durchaus modern und zeitgemäß, wenn es darum geht, eine parasitäre Lebensform zu begründen. Charakterlosigkeit war, ist und bleibt die Basis einer wohlfeilen Gesellschaft, die für alles einen Preis berechnen kann. Beim Rittmeister hingegen fanden sich noch rudimentäre Moralvorstellungen. Jochen Noch spulte sie geradezu mechanisch ab, als könnte er sich gegen diese Relikte vergangener Zeiten nicht erwehren. Wolfgang Preglers Zauberkönig indes nahm groteske Züge an, wenn er über den frühen Tod seiner Frau, über die feindlichen ökonomischen Bedingungen oder den tiefen Fall seiner Tochter in Larmoyanz verging. Anna Drexlers Spielgestus war ebenso distanziert wie Stephan Kimmigs gesamte Sicht auf das Stück. Sie verdeutlichte dem Publikum, dass es sich bei ihr nicht um ein zutiefst unglückliches Mädchen handelte, sondern um eine Schauspielerin, die die Geschichte von einem unglücklichen Mädchen darstellerisch und nicht ohne Komik erzählte.

Das war bestes episches Theater, stark verfremdet und gut funktionierend. Der Blick der Zuschauer blieb (von Tränen des Mitgefühls) ungetrübt und die Botschaft war darum umso radikaler: Die Welt findet im Wiener Wald statt; der Wiener Wald ist die Welt, und zwar hier und heute. Der allgemeine Rückzug in die Egomanie beginnt endlich gesellschaftliche Früchte zu tragen. Die Gesellschaft erodiert im Walzerschritt. Selbst Auslassungen über die „Naturgesetzlichkeit“ von Kriegen kann man in der heutigen Situation nur schwerlich widersprechen. Die Argumente gehen uns langsam aus. Das war, vielleicht auch wegen der momentanen weltgeschichtlichen Situation, eine neue Qualität. Das Publikum nahm diese schmuck- und emotionslose Inszenierung (2. Vorstellung) geradezu euphorisch an und lobte mit vielen Bravos. Und das gewiss nicht ohne gute Gründe!

 

Wolf Banitzki

 


Geschichten aus dem Wiener Wald

von Ödön von Horváth

Peter Brombacher, Anna Drexler, Sylvana Krappatsch, Stefan Merki, Jochen Noch, Wolfgang Pregler, Max Simonischek, Jeff Wilbusch, Joachim Wörmsdorf

Regie: Stephan Kimmig

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