Warum läuft Herr R. Amok

Kammerspiele Warum läuft Herr R. Amok? von R.W. Fassbinder und Michael Fengler


 

 

Viel Realismus im unrealistischen Spiel

Der Titel des Films von R.W. Fassbinder und Michael Fengler, wie auch der Titel des Stückes, das in der Regie von Susanne Kennedy am 27. November an den Münchner Kammerspielen Premiere hatte, ist ein Frage. „Warum läuft Herr R. Amok?“ In zwei Stunden und zehn Minuten sezierte Susanne Kennedy das Leben des in einem Architekturbüro arbeitenden Herrn Kurt Raab. Der Filmdarsteller war übrigens kein Geringerer als der Schauspieler gleichen Namens.

Der Mann, der zu Dickleibigkeit neigt, ist in jeder Hinsicht durchschnittlich und unauffällig. Seine Familiensituation, er hat eine hübsche, blonde Frau und einen wohlerzogenen Sohn, ist nach außen hin, von unbedeutenden Schönheitsfehlern abgesehen, geradezu vorbildlich. Doch der Schein trügt. Den allgegenwärtigen Anpassungsmechanismen unterworfen, verliert sich Herr Raab mehr und mehr, zieht sich immer weiter zurück und wird zunehmend stiller. Er spürt, dass er den Anforderungen seiner Familie und seines Chefs nicht gerecht wird. Die Kritik eskaliert, als er bei einer Betriebsfeier seinen Chef mit den lautersten Vorsätzen nötigten will, „Bruderschaft“ mit ihm zu schließen. Schließlich ging es ihm nur um die „freundliche Atmosphäre“ im Unternehmen. Seine Frau: „Hast du gar kein Interesse, befördert zu werden? (…) Je älter du wirst, umso dümmer wirst du und fetter. Die Nachbarn reden schon…“ Das Leben wird Herrn Raab schleichend, aber unaufhaltsam zur Hölle und am Ende seines Weges steht, keineswegs überraschend, die Katastrophe.

Nachdem Susanne Kennedy mit „Fegefeuer in Ingolstadt“ von Marieluise Fleißer in der vergangenen Spielzeit einen triumphalen Erfolg feiern konnte, die Inszenierung wurde aus vielen guten Gründen zu den „Berliner Theatertagen“ eingeladen, ließ sie sich von dem Fassbinder/Fengler Film zu einer weiteren Arbeit inspirieren, in der eines nahezu identisch mit der vorangegangenen Arbeit war: die Ästhetik. Das Bühnenbild von Lena Newton atmete den Charme eines überdimensionalen Kaninchenstalls. Der Raum, eine klassische Guckkastenbühne, war gänzlich mit Holz ausgekleidet, ein bevorzugter Baustoff zur Herstellung deutscher Gemütlichkeit in den 70er und 80er Jahren. Szenenwechsel wurden realisiert, indem ein Vorhang herabgelassen wurde, auf den ebenfalls ein gänzlich mit Holz ausgeschlagener Raum projiziert wurde. Darin fanden minimalistische Szenen, wie das Gießen einer Blumen oder das Hereinbringen eines Stuhls statt, Szenen die mit den Vorgängen innerhalb des Guckkastens korrespondierten. Eine computergenerierte Stimme bezeichnete die Handlungsorte der nachfolgenden Szene: Im Wohnzimmer, im Auto, im Büro....

Die Protagonisten des Spiels waren mit Masken ausgestattet, die im Ausdruck durchaus an Cartoon-Figuren von Loriot erinnerten. Körperlich fast bewegungslos wurden die Texte gesprochen, gestammelt, gebrabbelt, unterstützt von Posen oder befremdlichen Blicken. Bei Kenntnis der Arbeiten von Frau Kennedy fällt ein Wirkprinzip ins Auge, das den üblichen und nicht minder erfolgreichen Theaterästhetiken konträr entgegen steht.

Susanne Kenndy arbeitet mit extremen Mitteln der Verfremdung. An erster Stelle sind die Gesichtsmasken zu nennen, hinter denen nur die Augen und der Mund sichtbar waren. Hinzu kam ein nahezu statuarisches Spiel, das das gesprochene Wort extrem in den Vordergrund stellte. Die Sprache war, genau wie das körperliche Spiel, in beachtlichem Maß entschleunigt. Doch nicht genug damit, eine weitere Entfremdungsstufe wurde erreicht, indem die Texte Playback eingespielt wurden und die Darsteller nur vorgaben, sie zu sprechen. Mehr Verfremdung ging nicht. Doch die Wirkung war ungeheuerlich, denn es stellt sich beim Betrachter ein Unbehagen ein, das ihn sensibilisierte für die Semantik der Sprache und des Spiels und ihn (unfreiwillig) zu einem Oszillographen machte. Wem es da nicht gelang, sich auf die Geschichte einzulassen und somit zum Mitspieler zu werden, ging durch einige Höllen. Bewusst provozierte Langsamkeit wurde quälend, obgleich diese Inszenierung eine Vielzahl entsetzlich-komischer Momente beinhaltete. Einige (sehr wenige) Zuschauer hatte es bedauerlicherweise aus dem Raum getrieben. Ja, Theater ist manchmal nicht nur anstrengend, es kann auch dazu führen, dass man sich selbst nicht aushält.

Das „Wirkprinzip Kennedy“ ist in jedem Fall äußerst effektiv. Selten wurde auf der Bühne mit einem so radikalen Minimalismus ein so effizientes Verstehen, ein geradezu sinnliches Begreifen provoziert. Der Erklärung, warum Herr R. Amok lief, war nichts mehr hinzuzufügen.

Erstaunlich waren auch die schauspielerischen Leistungen, der nahezu unsichtbar gebliebenen Darsteller. Sie spielten in schnellem Wechsel viele unterschiedliche Rollen, wobei jeder in beinahe jeder Rolle (seines Geschlechts) auftrat. Es waren vornehmlich die kleinen Gesten, mit denen sie sich zu erkennen gaben. Christian Löbers Amadeus war kindlich-komisch, nie kindisch-albern. Walter Hess steuerte, sowohl als Kollege von Herrn R. als auch in der Rolle des Vaters, mit seiner feinen Gestik und seinen Posen enorm viele schlüssige Kommentare zur emotionalen Verrohung von Herrn R. bei. Dieser wurde hauptsächlich von Edmund Telgenkämper gestaltet, dessen gehetzte Schweigsamkeit sich über seine physische Stärke zunehmend zu einer durchaus sichtbaren Bedrohung auswuchs. Anna Maria Sturm und Çiğdem Teke waren verantwortlich für das sinnentleerte Geschwätz der Ehefrau oder der Freundinnen, für das tumbe Dasein zweier Plattenverkäuferinnen oder die Bissigkeit frustrierter Frauen, die das Fass letztlich zum Überlaufen brachten. Die Inszenierung erzählte eine bitterböse Geschichte mit viel Verständnis für die menschliche Kreatur, aber auch mit einer seltsamen Lakonie, die uns das (mitfühlende) Grauen vom Leib hielt. Es steckte erschreckend viel Realismus in diesem unrealistischen Spiel.

Es war in jeder Hinsicht gelungenes und großartiges, hochartifizielles Theater, sehr anspruchsvoll und unterhaltsam zugleich. Es bleibt allerdings zu hoffen, dass das „Kennedy-Prinzip“ nicht irgendwann zur Manier verkommt. Die Wege, die die noch junge Regisseurin beschritten hat, können sie in viele verheißungsvolle Richtungen weiter führen. Möge sie nie der Mut verlassen, auch zukünftig radikale Wendungen zu vollziehen.

 

Wolf Banitzki

 


Warum Läuft Herr R. Amok?

von R.W. Fassbinder und Michael Fengler

Kristin Elsen, Walter Hess, Christian Löber, Sybille Sailer, Anna Maria Sturm, Çiğdem Teke, Edmund Telgenkämper, Herbert Volz

Regie: Susanne Kennedy

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