Rocco und seine Brüder

Kammerspiele Rocco und seine Brüder  nach dem Film von Luchino Visconti in einer Fassung von Simon Stone


 

 

Wenig hilfreich zum Thema Migration

Luchino Viscontis breit angelegtes Filmepos, Bestandteil einer filmischen Süditalien-Trilogie, ist in Schwarz-Weiß gedreht und gilt als ein Spätwerk (erschienen 1960) des italienischen Neorealismus. Noch im Erscheinungsjahr bei den Filmfestspielen in Venedig preisgekrönt, fand es erst 1993 (ZDF) den Weg in deutsche Wohnzimmer. Allein schon wegen der tragisch überhöhten Geschichte wurde das Sozialdrama in Italien ein kommerzieller Erfolg und verhalf sowohl dem Regisseur zu großer Anerkennung, wie auch dem Darsteller des Roccos, Alain Delon, zum künstlerischen Durchbruch. Der Film schockierte seinerzeit wegen der dargestellten Brutalität und des Pessimismus, den er verbreitete, und musste geschnitten werden.

Die Geschichte blieb immerhin so aktuell, dass sie 2008 in der dramatischen Bearbeitung und der Regie von Ivo van Hove in der Jahrhunderthalle Bochum uraufgeführt wurde. Nebenbei: Ivo van Hove inszenierte 2013 „Seltsames Intermezzo“ von Eugene O'Neill und 2011 „Ludwig II“ nach dem Film von Luchino Visconti  an den Münchner Kammerspielen. Jetzt nun besorgte der 1984 in der Schweiz geborene, junge australische Autor/Regisseur Simon Stone eine Bearbeitung und Inszenierung für die Kammerspiele. Er wird vor allem wegen seiner „radikalen Neubearbeitungen von klassischen Texten“ in der Theaterszene hoch gehandelt. Ohne Frage kann man Viscontis Vorlage schon als Klassiker (der Moderne) bezeichnen, bei Stones Überarbeitung von radikal zu sprechen, wäre dann doch übertrieben.

Die Geschichte wurde in den Grundzügen und Konflikten unverändert übernommen. Einziger bedeutsamer Unterschied war, dass die Witwe Rosaria Parondi mit ihren Söhnen Rocco, Simone, Ciro und Luca nicht mit dem Zug aus dem süditalienischen Lukanien nach Mailand anreisten. Diese konkrete Topografie hatte Stone aufgehoben. Bei ihm kamen die Witwe und deren Kinder aus einem unbekannten Land in einer unbekannten Stadt an. Man könnte München getrost als Ankunftsort annehmen. Der fünfte und älteste Sohn Vincenzo war schon vor längerer Zeit voraus gereist und am Abend der Ankunft seiner Familie feierte er gerade seine Verlobung. Es kam zum Streit zwischen den Familien und zum Zerwürfnis. Der Familie Parondi wurde eine Sozialwohnung zugewiesen und Vincenzo bemühte sich, seine Brüder in „Brot und Lohn“ zu bringen. Durch Vincenzo kamen Simone und Rocco mit dem Boxsport in Berührung. Zumindest für Simone verhieß der Sport sozialen Aufstieg, zumal er schnell Erfolg hatte und Geld verdiente. Die Prostituierte Nadia wurde für alle zum Prüfstein, denn Simone verliebte sich in die anziehende Frau, die jedoch Rocco den Vorzug gab. Simone, längst auf die schiefe Bahn geraten, vergewaltigte Nadia, um seinen Besitzanspruch zu definieren, und schlug den Bruder brutal zusammen. Rocco sah die Schuld bei sich und übernahm die Schulden seines Bruders, in dem er sich im Boxstall für lange Zeit verpflichtete und in die „moderne Sklaverei“ ging. Als er im Zenit seiner Leistungen anlangte, befand sich Simone auf dem Tiefpunkt. Er stach Nadia, die wieder auf dem Strich arbeitete und nur Verachtung für Simone hatte, nieder. An diesem Punkt wurde unwiderruflich deutlich, dass die Familie, die einzig verlässliche Stütze für diese Menschen, zerbrochen war. „Wir sind Feinde geworden.“ Dennoch gab es einen Hoffnungsschimmer, denn Ciro war es durch Schulbesuch und unbeugsamen Willen gelungen, einen Beruf zu erlernen und eine Arbeit zu bekommen. Er gab seine gewonnenen positiven Einsichten an den jüngsten Bruder Luca weiter.

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Thomas Hauser, Christian Löber, Samouil Stoyanov, Johannes Geller, Wiebke Puls

© Thomas Aurin

 

Ralph Myers Bühnenbilder beschränkten sich auf das Wesentliche. Berge von Taschen beschrieben die Ankunft der Migranten, die voller Hoffnungen in die Stadt kamen. Sie fielen auf in ihren Jogginganzügen und schnell wurde deutlich, dass es ein Unmenge Codes gibt, die beachtet und eingehalten werden wollen, um einer automatischen Ausgrenzung zu entgehen. (Kostüme Henriette Müller)  Ein Fitnesscenter beschrieb den Boxclub, ein Sandsack, ein Laufband, eine Hantelbank etc. Weit entfernt von der Stadt, Rocco absolvierte seinen Militärdienst, traf er zufällig auf Nadia, die eine Haftstrafe abgesessen hatte. Der romantische Ort der Annäherung war ein vergammeltes Autowrack. Am Ende stand schließlich der Boxring, in dem Nadia zu Tode kam und Rocco seine Siege feierte. Das konnte durchaus metaphorisch gesehen werden, denn dieser Kampfplatz stand für das Leben schlechthin. Willkommen in der neoliberalen, glitzernden Welt, in der der Sozialdarwinismus betörende Geschmacksrichtungen hat.

Die wichtigste Qualität der Inszenierung war ihr Rhythmus. Die Szenen, Handlungsorte wurden als Überschriften eingeblendet, gingen fließend ineinander über. Regisseur Stone trieb die Geschichte atemlos voran und verlangte den Darstellern viel Bewegung und Körpereinsatz ab, ohne dabei jemals ins Chaos abzugleiten. Immerhin ging es über weite Strecken auch um Boxen. Es fällt (mir) schwer, Boxen noch immer als Sport zu bezeichnen, denn letztlich geht es nur darum, dem Gegner mittels Schlägen auf den Körper oder gegen den Kopf, die durchaus auch tödlich sein können, das Bewusstsein zu rauben. Es lässt gleichsam tief blicken, dass sich dieser Sport wieder enormer Beliebtheit auch bei Intellektuellen und Künstlern erfreut, bedeutet er doch ganz unmittelbar: „Survival of the fittest.“ Aber wie auch in dieser Gesellschaft, ist in vergangenen Gesellschaften das Gladiatorentum stets Ausdruck von Dekadenz gewesen. Traurig ist, dass die, die häufig die ungünstigsten Voraussetzungen in der Gesellschaft haben, von den Begüterten dafür entlohnt werden, dass sie sich vor aller Augen und zum Amüsement überdrüssiger Wohlstandsbürger gegenseitig zerfleischen. „Moderne Sklaverei“ trifft es. Den Verheißungen von Glanz und Glamour gehen vor allem Migranten auf dem Leim, die mit dem Verkauf ihrer Körper ihre Misere zu überwinden suchen.

Es ist unbestritten ein brisantes Thema, angesichts der Zuwanderung. Allein, die Wirkung der Inszenierung in den Kammerspielen reichte an die des Films längst nicht heran. So sehr sich die Darsteller auch mühten mit gekreischten Gefühlsausbrüchen wie Brigitte Hobmeier als Nadia oder Samouil Stoyanov als rummelboxerhaft, balztänzelnder Simone, sie blieben nur „prollige“ Varianten der Rollen. Verglichen mit der darstellerischen Eleganz einer Annie Girardot oder dem Dynamitbrocken Renato Salvatori waren sie nur Abziehbilder. Selbst Wiebke Puls als Mutter Rosarie kam über das Plakative nicht hinaus. Da war die bubenhafte Natürlichkeit von Johannes Geller als jüngster Bruder Luca geradezu wohltuend. Christian Löbers Ciro, die moralische Instanz im Stück, vermochte in seiner Weinerlichkeit kaum Hoffnung zu verbreiten. Der Grund, warum keine wirkliche Tiefe erzeugt werden konnte, war wohl in der Sprache zu suchen. Einerseits enthielt sie Wendungen, und mit Wendungen sind durchaus Richtungsänderungen gemeint, die verblüfften und Witz hatten, andererseits war sie bis zum Erbrechen mit Vulgarismen aufgeladen, die banalisierend wirkten. Sollte das ein neuer Realismus sein, mit dem Einwanderer charakterisiert werden? Oder meinte jemand, mit derartigen Mitteln gegen den „guten bürgerlichen Geschmack“ anrennen zu müssen? Diese Form der Provokation hatte keine wahrheitsbefördernde Qualität und langweilte nur. Was ist eigentlich daran auszusetzen, dass Kunst (des Wortes) eigentlich etwas mit Sprachpflege zu tun haben sollte. - Vor allem, wenn tausende Migranten ins Land strömen, die diese Sprache lernen sollen. Bei Visconti gibt es keinerlei sprachliche Entgleisungen und trotzdem würde niemand auf die Idee kommen, es sei langweilig oder fade.

Sprache ist materialisiertes Denken und verräterisch. Eine rohe Sprache impliziert rohes Denken. Unlängst sagte der deutsche Fußball-Bundestrainer im Rundfunk: „Wir waren nicht tödlich genug für unseren Gegner.“ Das ist so eine sprachliche Aufrüstung, auf die niemand reagiert hat, wohl, weil es gefällt. Die fortschreitende Brutalisierung ist nicht nur an der zunehmenden Zahl von Kriegs- und Krisenherden abzulesen, sondern auch an der alltäglichen Sprache. In der Wirtschaftsprache und in Unternehmenskommunikation hat Kriegsrhetorik beispielsweise längst einen festen Platz. Die Inszenierung von Simon Stone lebte nicht zuletzt auch von einer Brutalisierung durch Vulgarisierung der Sprache. An dieser Stelle trifft die Aussage über Stones „radikalen Neubearbeitungen von klassischen Texten“ allerdings zu. Es mag sein, dass in dieser „sozialen Schicht“ so gesprochen wird. Wenn man es aber dergestalt auf die Bühne bringt, liegt die Vermutung nahe, dass die Entstellung der Sprache sehr bewusst darauf zielt, ein gänsehäutiges Gruseln zu erzeugen, wie es sich einstellt, wenn man sich wilden Tieren gegenüber sieht und nicht genau weiß, ob der Zaun, der sie unter Kontrolle halten soll, auch tatsächlich stabil genug ist.

 

Wolf Banitzki

 


Rocco und seine Brüder

von Simon Stone

Wiebke Puls, Franz Rogowski, Samouil Stoyanov, Thomas Hauser, Christian Löber, Johannes Geller, Brigitte Hobmeier, Gundars Āboliņš, Stefan Merki, Hannah Schutsch, Maj-Britt Klenke

Regie: Simon Stone