Kammerspiele  Der Fall Meursault – Eine Gegendarstellung  Nach dem Roman von Kamel Daoud


 

Poetischer Existenzialismus

„Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord.“ So lautet der erste Satz in „Der Mythos von Sisyphos“. Dieser philosophische Essay, in dem Camus das Absurde zum wesentlichen Element des Existenzialismus erklärte, erschien 1942 und somit im selben Jahr wie „Der Fremde“. Siebzig Jahre später erschien mit „Der Fall Mersault – eine Gegendarstellung“ des algerischen Autors Kamel Daoud. Soviel vorweg, eine Gegendarstellung zu Camus‘ „Der Fremde“ zu schreiben, ist mehr als mutig. Das kann schnell schief gehen und im künstlerischen Selbstmord gipfeln. Aber, und dieser Gedanke entbehrt nicht einer gewissen Komik, das ist nicht der Selbstmord, den Camus meinte. Dennoch, der Philosoph erwähnte in „Der Mythos von Sisyphos“ folgenden Fall: „Ich habe von einem Nachfolger Peregrinos’ gehört, von einem Nachkriegsschriftsteller, der sich nach Vollendung seines ersten Buches das Leben nahm, um die Aufmerksamkeit auf sein Werk zu lenken. Die Aufmerksamkeit wurde tatsächlich erregt, das Buch aber wurde verrissen.“

Nein, Selbstmord beging Kamel Daoud mit seinem zu Recht sehr erfolgreichen Roman nicht. Es ist auch keine wirkliche Gegendarstellung, sondern ein Prosawerk, das von „Der Fremde“ initiiert und inspiriert ist. Wenn die junge Meriem, Maya Haddat als sehr anmutige und liebenswerte Autorin einer wissenschaftlichen Arbeit über das Buch von Camus, anmerkt, dass die Familie Camus die Aufführung beider Werke, „Der Fremde“ und „Der Fall Meursault“ im selben Kontext verbietet, hat die Familie des Philosophen nicht ganz Unrecht. Das eine Werk ist in der Tat ein philosophisches und kein rein narratives Werk. Das Gegenteil trifft auf „Der Fall Meursault“ zu. Das ist jedoch keine Wertung, wie der Tonfall Meriems unterstellte. Es geht vielmehr darum, dass man Äpfel und Birnen nicht als ein und dasselbe verkaufen kann. Es ist auch nicht wirklich zutreffend, dass der literarische Ruhm von „Der Fremde“, wie gelegentlich behauptet, aus der Namenlosigkeit des Opfers resultiert. Den Ruhm verdankt dieses Buch seiner absoluten Aufrichtig- und Kompromisslosigkeit, die menschliche Existenz als das zu benennen, was sie im philosophischen Verständnis ist: sinnlos. Meursault (Camus), der gleichgültige Mörder bringt es mit dem letzten Satz auf den Punkt: „Damit sich alles erfüllt, damit ich mich weniger allein fühle, brauche ich nur noch eines zu wünschen: am Tag meiner Hinrichtung viele Zuschauer, die mich mit Schreien des Hasses empfangen.“

  Der Fall Meursault  
 

Walter Hess, Maya Haddad, Hassan Akkouch

© Judith Buss

 

Kamel Daoud gab dem vom Franzosen Meursault getöteten Mann sowohl einen Namen, Musa, als auch einen Bruder, Harun, und eine Mutter. Letztere, gespielt von Mahin Sadri, hatte etwas Erinnyenhaftes, in schwarz gekleidet, in ihrer Muttersprache lamentierend, das Bild Musas vor der Brust, zog sie zwanzig Jahre ihren Weg auf der Suche nach ihrem Sohn durch die Geschichte, nicht akzeptierend, dass er tot ist. Die eigentliche Trauerarbeit hatte Haroun zu leisten. In der Inszenierung des iranischen Regisseurs Amir Reza Koohestani war er in drei Lebensaltern (auch gleichzeitig auf der Bühne) präsent: Haroun als siebenjähriger (Dennis Kharazmi/Jasper Kohrs), als junger Mann (Samouil Stoyanov) und als alter Mann (Walter Hess). Haroun war die Hauptperson in der Geschichte, denn ihm oblag es, sich zum sinnlosen Tod des Bruders zu verhalten und, so sieht es die gesellschaftliche Konvention und die „ewige Ordnung“ vor, ihn zu rächen.

Harouns erster Auftritt geschah als alter Mann. Walter Hess erschien nur als Kopf auf der Bühne im Angesicht seiner betenden Brüder in der Moschee und erklärte dem Publikum, dass er ein Ausgestoßener sei, denn er glaubt weder an Gott, noch hat er Weib und Kinder und er trinkt gern Alkohol. Auf die Androhung, man werde ihm die Beine ausreißen wegen seiner Gottlosigkeit, antwortete er lakonisch: „Darum bin ich auch nur als Kopf gekommen.“ Und genau diese bisweilen sehr komische Lakonie war es, die die Geschichte und die Inszenierung trug und kurzweilig machte. Dabei hatte sie durchaus einen existenzialistischen Beigeschmack. Am Ende erschoss Haroun den Franzosen Joseph, als dieser sich vor den Aufständischen der algerischen Unabhängigkeitsbewegung auf dem Hof Harouns in Sicherheit brachte. Gundars Āboliņš gab den Joseph, wie er zuvor den Mörder Meursault gab. Dabei ging ihm das Sterben nicht so leicht von der Hand wie die Tötung Musas. Der Paradigmenwechsel dieser Rollen war durchaus ein Indiz für die Absurdität des Daseins. Hier allerdings wurde sie ausdiskutiert. Sinngemäß: „Du hättest doch nur sagen sollen: geh, und ich wäre gegangen.“ „Wir haben dir oft gesagt: geh, und ihr seid nicht gegangen.“ „Aber wenn du es jetzt gesagt hättest, wäre ich gegangen.“  Es wurde noch absurder, als Haroun (Samouil Stoyanov) sich vor dem Polizisten (Hassan Akkouch) für die Tötung rechtfertigen musste. Die Unabhängigkeit war gerade errungen und somit war Haroun nach dem geltenden Gesetz ein gemeiner Mörder, denn Joseph war algerischer Bürger. Einige Tage zuvor wäre der Mord eine patriotische Tat eines Widerstandskämpfers gewesen und somit folgenlos geblieben. An diesem Punkt wurde überdeutlich, dass Amir Reza Koohestani die postkolonialen Positionen überwunden hat, die sich bei Camus noch finden.  

Die Inszenierung war ästhetisch sehr ansprechend dank der Ausstattung (Mitra Nadjmabadi) und den eingespielten Videoinstallationen von Meika Dresenkamp. Der poetische Inszenierungsansatz zielte nicht auf einen reinen Plot, den der Zuschauer im Kopf getrost nach Hause tragen konnte. Regisseur Amir Reza Koohestani erklärte diesen Ansatz im Programmheft so schlüssig, dass dem nichts hinzufügen ist: „(…), denn mein Theater folgt keiner kausalen Logik, es ist mehr ein visuelles Gedicht, eine Aneinanderreihung von lyrischen Bildern – ein Mond, zwei Männer, Nebelschwaden, das Geräusch des Meeres – und ein Gedicht verliert seinen Sinn, wenn man sich ihm mit Logik nähert.“

Ein sehenswerter Theaterabend, mit dem die Münchner Kammerspiele die neue Spielzeit eröffneten. Und das überaus zufriedene und freudige Gesicht des Autors Kamel Daoud ließ darauf schließen, dass die Inszenierung der Prosavorlage gerecht wurde. Was will man mehr!

Wolf Banitzki

 


Der Fall Meursault – Eine Gegendarstellung   

Nach dem Roman von Kamel Daoud

Gundars Āboliņš, Hassan Akkouch, Walter Hess, Mahin Sadri, Samouil Stoyanov, Maya Haddad, Dennis Kharazmi/Jasper Kohrs

Regie: Amir Reza Koohestani

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