Kammerspiele Die Selbstmord-Schwestern / The Virgin Suicides nach dem Roman von Jeffrey Eugenides
Willkommen in der Welt der Mangas
Der Romanerstling „The Virgin Suicides" von Jeffrey Eugenides aus dem Jahr 1993, von Sofia Coppola 1999 erfolgreich verfilmt und international bekannt gemacht, erzählt die fiktionale Geschichte der fünf Lisbon-Töchter, die allesamt Selbstmord begehen. Berichtet wird aus der Perspektive einiger Jugendlicher aus der Nachbarschaft der Lisbon-Familie. Durchgängig schwingen eine tiefe Verehrung und ein leidenschaftliches Begehren der Jungs mit, die nach dem Tod der Mädchen alle nur denkbaren Indizien für die Selbstmorde zusammentragen. Sie wollen begreifen, was geschah. Am Ende können sie es doch nicht fassen.
Für den Außenstehenden bleibt allerdings wenig verborgen und die Unfassbarkeit der Jungs ist einer sehnsüchtigen Verehrung geschuldet, die es ihnen unmöglich macht, die Realität zu akzeptieren und zu verstehen. Es meint genau dieses lächerliche „Warum?“, das, auf Pappschilder gekritzelt, an Tatorten von Amokläufen oder Kindstötungen von Betroffenen, sie sind es zumeist nur im weiten oder übertragenen Sinn, aufgestellt werden. Der Suizid der jüngsten, höchst sensiblen Tochter Cecilia beruht auf ihrer umfassenden Verzweiflung über den Zustand der Welt, die durch die Oberflächlich- und Verantwortungslosigkeit der menschlichen Bewohner bedroht ist und Stück um Stück vernichtet wird. Pubertäre Gefühlsschwankungen machen einen so radikalen Schritt möglich und glaubhaft. In der Geschichte finden sich zahllose derartige Verzweiflungstaten. Die Suizide der anderen Schwestern waren die Taten hoffnungsloser Mädchen, denen ihr Leben in dem Augenblick genommen wurde, als sich ihnen das Wunderbare daran offenbarte. Die Mädchen waren Opfer der rigiden Maßnahmen einer fanatischen religiös-moralischen Mutter, die die Mädchen wie Gefangene hielt.
Hinter dieser Geschichte stehen Schicksale, die, in Zahlen ausgedrückt betroffen machen und aufzeigen, wie ernst es ist. In Deutschland töten sich ca. 600 Jugendliche im Jahr selbst. Die Dunkelziffer missglückter Suizidversuche unter Jugendlichen betrage, so Fachleute, etwa das 10-fache. Also ist das Thema brandaktuell und durchaus geeignet, auf die Bühne gebracht zu werden. Wer nun glaubte oder gar hoffte, in den Münchner Kammerspielen eine Katharsis zu dem Thema Selbstmorde bei Jugendlichen erleben zu können, wurde diesbezüglich nicht befriedigt. Susanne Kennedy erzählte diese Geschichte auch nur partiell und nicht in so komplexer Weise wie im Roman oder im Film. Wer beide, Roman und Film, nicht kannte, war ohnehin auf verlorenem Posten. Und wer sie kannte, war es auch, es sei denn, er hatte vorab Gelegenheit, das Programmheft zu lesen. Dann hätte sie oder er erfahren können, dass die vier Mangafiguren, die Schauspieler unter den Masken und Kostümen blieben bis zur Schlussverbeugung verborgen, auf der Bühne wechselseitig den erzählenden Jungs aus der Nachbarschaft und den Mädchen ihre technisch verfremdeten Stimmen liehen.
Damian Rebgetz, Hassan Akkouch, Walter Hess, Christian Löber © Judith Buss 2017 |
Schließlich wurde noch ein Avatar (Video Rodrik Biersteker ) in oder auf die zahllosen Monitore und Projektionsflächen projiziert, der Texte des LSD-Gurus Timothy Leary auf Englisch sprach. Den Kurzschluss zu unserem (vornehmlich virtuellen) Alltag bildete ein Youtube-Tutorial, in dem ein 11jähriges Mädchen Schminktipps gab. Strukturiert wird die Videoperformance mit installativem Charakter, Kriterien des tradierten Sprechtheaters wurden eigentlich kaum erfüllt, durch das Tibetanische Totenbuch, ein Gegenentwurf zu unserem westeuropäischen „nüchternen“ Totenkult. Das buddhistische Werk stammt aus dem 8. Jahrhundert und heißt „Bardo Thödröl“, was so viel wie „Befreiung durch Hören im Zwischenzustand“ bedeutet. Darin werden die Erfahrungen „menschlicher Seelen beim Sterben, im Nach-Tod-Zustand und bei der Wiedergeburt“ beschrieben. Das Werk dient der Erlernung der „Kunst des Sterbens“.
Die Inszenierung war unbestritten ein ästhetisches Ereignis, wenngleich vieles darin deutlich an Matthew Barneys „Cremaster“-Videos erinnerte, aufgeladen mit kryptischer Bedeutung und Symbolik, unterlegt mit psychedelischem Sound (Sound Richard Janssen). Poetisch verbrämte Schlagworte ersetzten einen stringenten Erzählstrang: Selbstmord, Bewusstsein, Wahrnehmung, Jungfräulichkeit, Begehren, Kult usw. Ganz unvermittelt kamen auch biografische Fakten zu Kirsten Dunst („Ikone der Mädchenhaftigkeit“) vor, der Darstellerin der rebellischen Lux Lisbon in Coppolas Film. Der Grund? Man kann nur spekulieren wie bei vielen Bildern. Vielleicht: ‚Ihre Augen sahen viel älter drein als sie tatsächlich waren.‘
Die Bühne von Lena Newton erinnerte an eines der zahllosen Spielcasinos in den japanischen Großstädten, in die sich die gestressten Arbeitnehmer nach einem überlangen Arbeitstag flüchten, um sich spielerisch das malträtierte Hirn frei zu blasen. Für dieses Bühnenbild bedürfte es eine Interpretationsanleitung. Auch müsste man wohl mehrfach in die Vorstellung gehen, um die Unmenge von Bildern, Videos und Malereien entschlüsseln zu können, soweit das überhaupt möglich ist. Das Spiel der Darsteller war, wie man es aus vorigen Inszenierungen von Susanne Kennedy kennt, stark entschleunigt. Neu war der gänzliche Verzicht auf konkrete Charaktere. Das machte das Ganze nicht nur unkonkret, sondern über weite Strecken auch beliebig. Die „entsetzliche“ Intensität, die beispielsweise die Zuschauer in „Fegefeuer von Ingolstadt“ an die Grenzen des emotional Erträglichen brachte, blieb gänzlich aus. Und obgleich es sich um den Selbstmord von fünf jungen Mädchen drehte, brachten szenische Arrangements einige Zuschauer immer wieder zum Lachen.
Die eineinhalb Stunden hatten eine gehörige Länge, denn abgesehen von wohlklingenden Phrasen über das Leben, das Sterben und das Erinnern, ermüdete die Monotonie der bunten Bilder, belanglosen Videos oder Choreografien der großäugigen Mangagesichter. Schnell stellte sich derselbe Überdruss ein, der einen überkommt beim Betrachten von Barbie-Kollektionen. In der Intention der Macher lag es, „Erinnerungen, Bilder, Töne, Wörter in einem Kaleidoskop“ zusammenzufügen. „Am Ende hatten wir Teile des Puzzles, aber ganz gleich, wie wir es zusammensetzten, es blieben immer Lücken.“ Diese Lückenhaftigkeit war ein spürbares Gefühl. Das war aber offensichtlich kein Manko, denn die Vorstellung wurde vom Publikum frenetisch gefeiert. Willkommen in der Welt der Mangas, der neuen Bewusstseinsebenen und der Reinkarnation. Willkommen in der Welt diffuser Gefühle, der mangelnden Orientierung und der Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod. Das Leben als Comic hat unbestritten seine Vorteile. Süß anzuschauen ist sie allemal.
Wolf Banitzki
Die Selbstmord-Schwestern / The Virgin Suicides
Nach dem Roman von Jeffrey Eugenides
In Koproduktion mit der Volksbühne Berlin.
Hassan Akkouch, Walter Hess, Christian Löber, Damian Rebgetz, Ingmar Thilo Inszenierung: Susanne Kennedy |