Kammerspiele Miranda Julys Der erste fiese Typ nach dem Roman von Miranda July


 

Helden der Neuzeit

Cheryl Glickman ist 43 Jahre alt, alleinstehend und kinderlos. Diese, heutigentags nicht gerade seltene Konstellation gebiert Wesen, die anstelle von Leidenschaften eher Macken haben, die nicht lieben, sondern vor ihren Ängsten fliehen und die so sozial wie ein ausgestopfter Igel sind. Cheryl leidet an einer psychosomatischen Krankheit, einem nichtexistenten Kloß im Hals (Globussyndrom), der mittels Chromotherapie (in ihrem Fall mit Rot) einigermaßen erfolglos behandelt wird. Sie spricht, wann immer sich die Gelegenheit bietet, mit Kindern, die nicht ihre sind, die bei ihr allerdings mit Sicherheit besser aufgehoben wären. Und sie benutzt so wenig Geschirr wie nur möglich, weil schmutziges Geschirr der Anfang der völligen Verwahrlosung ist. Als Clee, die Tochter ihres Chefs „vorübergehend“ bei ihr einzieht, ist Cheryls ritualisierte Welt perdu.

Chaotisch war diese Welt schon vor dem Eindringen Clees. Mehr Kontrolle erlangte Cheryl auch bei gesteigerter Anstrengung nicht. Das lag aber nicht unbedingt an ihr, denn die trabentenhaften Figuren im großen Spiel des Lebens waren nicht weniger seltsam. Da kreiste neben ihrem Chromotherapeuten auch ein Kollege, er gehörte zum Vorstand der Firma, in der sie arbeitete, um dessen Liebe sie buhlte. Beim ersten Date gestand der ihr sein großes (schlimmes) Geheimnis. Er begehrte eine 16jährige und erbat von Cheryl ihren Segen, dass er sie deflorieren dürfe. Die Defloration zieht sich hin und der Zuschauer kann den Prozess mittels Kurznachrichten mit verfolgen. Dann kam die Schwangerschaft, nein, nicht die der 16jährigen, sondern Clees, und damit wurde es ernst im Leben der beiden Frauen. Über rabiate körperliche Auseinandersetzungen, (minutenlange Raufereien auf der Bühne), fanden sich die beiden miteinander in einer lesbischen Beziehung wieder. Doch auch die zerbrach und irgendwann zeichnete sich ab, dass Cheryl die Verantwortung für ein Kind übernehmen würde. Ihr Resümee der ganzen Geschichte ist der eigentliche Plot und soll nicht verraten werden.

Das Bühnenbild von Jonathan Mertz gab nicht vor, den Lebensraum der beiden Frauen zu beschreiben. Es war eine ausladende Spiel-Fläche, auf der in praktischen Holzboxen die Requisiten verwahrt waren. Darauf tobte das Leben, wie es von Clee, wenn sie einmal nicht gerade chillte, Chips aß, Cola trank und Geschirr schmutzig machte, befeuert wurde und in dessen Sog Cheryl wie ein trunkener Kreisel zum Taumeln gebracht wurde. Rüpings Raumaufteilung war schlicht und praktisch, hinten Mitterechts die Musikanlage, davor ausladend die Spielfläche leicht abgeschrägt zur Rampe hin. Aufgeteilt wurde der Bühnenraum durch drei Staffeln Gazeprospekte, auf die Videobilder gebeamt wurden.

  Miranda Julys Der erste fie  
 

Anna Drexler, Maja Beckmann

© David Baltzer

 

Das Publikum wurde mit offenem Vorhang empfangen. Maja Beckmann und Anna Drexler absolvierten mit einigem physischen Einsatz ein scheinbar plan- und zielloses Fitnesstraining. Als das Licht im Zuschauerraum gedimmt wurde, wandten sich die beiden ans Publikum. Das wurde sogleich durch die direkte Ansprache vereinnahmt. Man signalisierte, dass es keine vierte Wand geben werde. Tatsächlich wurde das Publikum einbezogen und „mitverwertet“ (Brecht). Klar war von Anfang an, dass kein ästhetisch durchgestaltetes Werk zu erwarten war. Das Publikum nahm das dankbar an. Im Hintergrund, anfangs dezent, und mit fortschreitendem Spiel immer dominanter, begleitete kommentierend die Sängerin Brandy Butler mit ihrer wunderbaren schwarzen Blues- und Jazzstimme.

Die Videokünstlerin Rebecca Meining beleuchtete das Spiel mit ihrer Handkamera und erlaubte durch die vergrößernde Projektion sehr intime Ansichten der wunderbar beseelten Gesichter der Darstellerinnen. Beide spielten, als gäbe es kein Morgen mehr: entfesselt, uneitel und überbordend. Zwei große Talente gab es an diesem Abend zu entdecken, die allerdings noch ein wenig ungeschliffen daher kamen. Aber Mäßigung und Kontrolle zugunsten einer ausgefeilten Ästhetik ist nicht in der Programmatik der (neuen) Kammerspiele niedergeschrieben. Der Abend war Dank der Leistung der beiden Darstellerinnen kurzweilig, denn sie trieben nach bestem Wissen und Gewissen Schauspielkunst. Es gab nur wenige Momente, in denen sie ins Private abglitten oder in denen sie bewusst gegen ihre Rollen anspielten. Sie fügten sich ihnen weitestgehend.  

Christopher Rüping und seine Crew durften sich glücklich schätzen, denn ihnen wurde von der Autorin Miranda July, „Sprachrohr moderner Großstadtbewohnerinnen“, explizit die Erlaubnis zur Dramatisierung erteilt. Dem Erstlingsroman wurde bei Erscheinen 2015 höchstes Lob zuteil. „The Guardian“ reihte ihn neben Tolstois „Anna Karenina“ in die Liga der zehn eindringlichsten Liebesromane ein. Miranda July trat zu Beginn ihrer künstlerischen Karriere als Performerin in Erscheinung. Performances haben immer einen zeitlich punktuellen Anspruch. Das macht ihre Einmaligkeit und ihre Vergänglichkeit gleichermaßen aus. Sie provozieren Emotionen und eröffnen Einsichten; sie taugen allerdings kaum für eine ethische oder philosophische Nachhaltigkeit, die man einem Tolstoi indes nicht absprechen kann. Und so mutet „Miranda Julys Der erste fiese Typ“ gleichfalls performativ an.

Ohne Zweifel ist Miranda Julys Roman ein originelles Werk, das Zeitgeist widerspiegelt und skurrile, absurde, kontraproduktive (neu sind sie gewiss nicht) Formen urbanen Lebens spiegelt. Doch den Roman auf eine Stufe mit Tolstois Werk zu stellen ist einigermaßen vermessen, denn es geht vornehmlich um Oberflächlichkeiten, um lust- oder leidvolle aber dennoch rationale Organisationsformen des Lebens. Zudem schwingt immer eine gewisse Infantilität im Umgang mit den Menschen, den Dingen und der Liebe mit. So verwundert es nicht, dass letztlich die Mutterschaft, der frühe, kitschige Traum jedes Mädchens, die Erlösung zu bringen scheint. Sie wurde zum Silberstreif am Horizont. Sie steht allerdings nicht für fleischgewordene Liebe oder das Verschmelzen von Menschen miteinander. Die bleiben isoliert, einsam und getrieben von Neurosen und Ängsten. Emanzipatorische oder politische Kategorien finden nicht statt. Die Botschaft, so eine beabsichtigt war: Das Leben ist furchtbar öde und trist und rauschhaft schön zugleich und irgendwie nehmen wir es auf fatalistische Weise an. Wer sein Leben zu gestalten sucht, versucht es auf seltsam schräge Art, Scheitern inbegriffen.

Wolf Banitzki

 


Miranda Julys Der erste fiese Typ

nach dem Roman von Miranda July

Maja Beckmann, Anna Drexler, Brandy Butler, Rebecca Meining

Regie: Christopher Rüping