Kammerspiele  Tiefer Schweb Ein Auffangbecken von Christoph Marthaler


 

Auf Tauchstation


Im Januar 2046 entdecken Hobbytaucher an der tiefsten Stelle des Bodensees einen von Menschenhand geschaffenen Raum, dessen Eingang von einer verborgenen Stahltür verschlossen ist. Ein Team von Bergungstauchern entdeckt hinter der Stahltür einen holzgetäfelten Konferenzraum mit Kachelofen, der einer Amtsstube aus dem 18. Jahrhundert ähnelt. Der Kachelofen ist gleichsam Heizung und Einstieg in die Tauchglocke. Zudem gibt es Lagerräume, in  denen sich Trinkwasserbehälter befinden und Archive. Ein aufgefundener Rest einer Zeitung verrät, dass die Räume noch 2017 genutzt wurden. Dieser rätselhafte Fund inspirierte Christoph Marthaler, Malte Ubenauf und Ueli Jäggi zum Versuch einer Rekonstruktion. Aller Wahrscheinlichkeit nach tagte in dieser Klausurkammer eine Expertenkommission aus Beamten, die sich dorthin zurückgezogen hatte, um sich auf den „Tag X“, auch als „unausweichlich bevorstehenden Moment der Wahrheit“ bezeichnet, vorzubereiten.

Auf der Wasseroberfläche über dem „Tiefen Schweb“, wie die Stelle im Bodensee genannt wird, im Dreiländereck Österreichs, der Schweiz und Deutschlands gelegen, waren schwimmende Wohncontainer installiert worden. (Pilotprojekt Schwimmende Dörfer, BGR-Z) Die Zahl der zugewanderten Antragsteller wuchs stetig, was bereits zu einer Verlegung der touristischen Wasserrouten durch die Zentrale Verwaltungsbehörde der Bodenseeregionen (ZVB) geführt hatte. Es war quasi eine No-go-Area entstanden.

Die Wahrheit war: Europa sah sich einer zweiten großen indogermanischen Völkerwanderung gegenüber und versuchte sich vorzubereiten. Die Beamtenschaft tat dies auf die ihr eigene Art und Weise. Zuerst galt es, die Termini neu zu definieren und zu interpretieren. Als erstes blieben die Begriffe „unbedingte Gastfreundschaft“ und „Gerechtigkeit“ auf der Strecke, denn bei näherer Betrachtung und unter Berücksichtigung der objektiven Gegebenheiten, ließ sich ein Zusammenhang nicht mehr denken. Dreißig Jahre nach dem Projekt „Tiefer Schweb“ war man bereits einen großen Schritt weiter, denn die Begriffe „Gerechtigkeit“ und „Gastfreundschaft“ ließen sich selbst auf abstrakter Ebene nicht mehr in Einklang oder in einen Zusammenhang bringen.

Zahlreiche Fundstücke gaben zumindest teilweise Aufschluss darüber, in welche konkrete Richtung die Insassen dachten und planten. Während Zeichnungen auf Millimeterpapier keinen eindeutigen Aufschluss darüber gaben, ob es sich bei Positionsangaben um militärische Flottenverbände an der Oberfläche oder um die Positionierung von Pissoirs und anderen Sanitäreirichtungen in der Klausurkammer handelte, erklärte sich ein aufgefundener Powerriegel von selbst. Vor dem Verbot dieses Riegels (Er erzeugte unkontrolliert Bluthochdruck.) galt er als beliebtes Tauschobjekt insbesondere in beengten Wohnverhältnissen (Gefängnisse, Bunker, U-Boote).

  Tiefer Schweb  
 

Hassan Akkouch, Walter Hess, Ueli Jäggi, Stefan Merki, Annette Paulmann, Jürg Kienberger, Olivia Grigolli, Raphael Clamer

© Thomas Aurin

 

Überaus interessant waren aufgefundene Schriftstücke, aus denen veraltete und inzwischen völlig ungebräuchliche rhetorische Komposita entschlüsselt werden konnten: „Führungskulturelle Differenzen“,  „Mentales Luftholen“, „Brücken schlagen“ oder „Das geltende Werte- und Bekenntnissystem“. Diese Funde lassen darauf schließen, dass auch ein politischer Diskurs stattgefunden haben könnte. Rätselhaft blieb allerdings der Fund von 47 baugleichen Wasserbehältern, deren Inhalt mit bis zu 97 % Antibiotika-resistenten Bakterienstämmen kontaminiert war. Waren es Proben aus dem Bodensee oder vertrugen die Bewohner in der Klausurkammer diese Bakterien? Doch es gab auch Funde, die die rein menschliche Seite der Insassen sichtbar werden ließen, beispielsweise eine Trachtenhaube und Fotos.

Es war eine ebenso komplexe, wie absurde Geschichte, die Christoph Marthaler auf die Bühne der Kammerspiele, von Duri Bischoff als holzgetäfelte Amtsstube mit Tonnengewölbe und verschiebbaren Wänden gestaltet, brachte. Marthaler ist ja für seine eigenwilligen und zugleich hochpoetischen, mit viel Musik angereicherten Inszenierungen bekannt. Die Gefahr bei so hochartifiziellen Geschichten ist ja häufig eine naturgemäße Realitätsferne. Nicht so bei „Tiefer Schweb“. Ganz im Gegenteil! Marthaler erklärt mit seinem seltsamen konspirativen Zirkel heutige Politik, die in ihrer Ratlosigkeit Gesetze wälzen, Sprache uminterpretieren, abstrakte Ideen entwickeln und Nebensächlichkeiten präferieren. Auch das ist eine probate und praktizierte Methode, Probleme auszusitzen, für deren Lösungen man visionäre Ideen bräuchte und unpopuläre Entscheidungen treffen müsste.

Nicht die Darstellung Marthalers war realitätsfremd, sondern die dargestellten gesellschaftlichen Protagonisten. In ihnen spiegelt sich die völlige Ratlosigkeit heutiger (etablierter Parteien-) Politik und Politiker. Gleichsam gelingt es Marthaler, reale Ängste fühlbar werden zu lassen, ohne sie konkret zu benennen. Immer wieder geraten die Insassen in höchste Not, wenn der Druckausgleich nicht mehr funktioniert. Dies war eine brillante Metapher für reale Vorgänge, die Schnappatmung und Panik in der Gesellschaft auslösen.
Die Darsteller, sämtlich in Bürokratengrau gewandet (Kostüme: Sara Kittelmann) kamen endlich einmal wieder als Figuren- und Rolleninterpreten zum Zuge und es war ihnen deutlich anzusehen, wie sehr sie es genossen. Immer wieder steckten sie am Tagungstisch die Köpfe zusammen und deklamierten mit tierischem Ernst hanebüchene Ideen, die, und dabei tat die hochgestochene Beamtenkunstsprache ein Übriges, an Kafka erinnerte.

Und Kafkaesk gestalteten sich sämtliche Szenen, die weder zielführend noch ergebnisorientiert waren, und die letztlich immer wieder in Musik aufgelöst wurden. (Musikalische Leitung: Jürg Kienberger) Dabei senkte das gute alte, vielstrophige Volkslied den Blutdruck und die Herzfrequenz. Es kam aber auch der Jubilar Luther mit „Ein feste Burg ist unser Gott“ zu Ehren und wenn die Zeilen erklangen: „Und wenn die Welt voll Teufel wär / und wollt uns gar verschlingen, / so fürchten wir uns nicht so sehr, / es soll uns doch gelingen.“, war der Satz „Wir schaffen das!“ unüberhörbar. Ueli Jäggis Interptretation von „The Sound Of Silence“ (Simon And Garfunkel) und „A Whiter Shade Of Pale“ (Procol Harum) hielten dem Vergleich mit den Originalen durchaus stand. Welch wunderbaren Anblick ein vierstimmiger Chor bietet der durch Urinale singt, kann unmöglich beschrieben werden. Dazu bedarf es unbedingt des Augenscheins.

Es war ein urkomischer Abend, dem es an echtem Tiefsinn und wunderbarer Doppelbödigkeit nicht mangelte. Selbst eine prophetische Ankündigung wie: Die Bayern verbrennen ihre total bescheuerten Folklorekostüme (der Schwarzwald war gleichfalls auszumachen) und lernen Chinesisch, musste nicht zwingend als Bedrohung aufgefasst werden. Es war ein grandioser Abend, der vom Publikum zu Recht mit frenetischem Applaus bedacht wurde.  

Wolf Banitzki

 


Tiefer Schweb

Ein Auffangbecken von Christoph Marthaler (UA)

Mit: Ueli Jäggi, Olivia Grigolli, Hassan Akkouch, Annette Paulmann, Walter Hess, Jürg Kienberger, Stefan Merki, Raphael Clamer

Inszenierung: Christoph Marthaler

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