Kammerspiele  Doktor Alici  von Olga Bach


 

Das Gesetz als Instrument gegen die Demokratie

„Wenn man nur einmal in der Früh (…) anfing, das Richtige zu tun und so in einem fort den ganzen Tag lang das Richtige, so säße man sicher noch vor dem Nachtmahl im Kriminal.“ Was hat er denn getan, der Herr Professor Bernhardi, angesehener Internist seines Zeichens, dass er im Kriminal landete? Er hatte einer sterbenden Patientin in „Euphorie“, also ohne Vorahnung auf den baldigst kommenden Tod, den (katholischen) priesterlichen Beistand verweigert, da dieser sie zu Bewusstsein gebracht und mit dem Sterben konfrontiert hätte. Das ruft Klerikale und Antisemiten auf den Plan, denn Bernhardi ist Jude. Feigheit und Neid der Kollegen isolieren ihn und vermeintlich wohlmeinende Freunde wie der Unterrichtsminister gehen auf Abstand. Bernhardi bleibt moralisch kompromisslos und er muss ins Gefängnis. Er lehnt den Kampf, die Gegenwehr ab und er kann seine moralische Integrität nur um den Preis der Niederlage aufrecht erhalten. Schnitzlers im Zeitraum von 1905 bis 1912 entstandenes Werk fällt in eine Zeit des hochkochenden Antisemitismus´. Deutsch-nationale und christlich-soziale Strömungen schufen ein Klima der Aggressivität und des Hasses, der schließlich in dem Ausbruch des 1. Weltkrieges gipfelt.

Die 1990 geborene Autorin Olga Bach erlebte im Jahr 2013 eine Inszenierung des Stückes von Arthur Schnitzler und war angetan von der Aktualität des Stoffes. Sie adaptierte Schnitzlers Werk in das Jahr 2023 und verlegte den Ort der Handlung von Wien nach München. Dort stehen in zwei Monaten Landtagswahlen an und insbesondere die herrschenden Parteien, es sind eine christlich-soziale und eine ökologische, müssen um ihre Herrschaft fürchten. Themen müssen her, über die man sich profilieren und sich dem Wähler (vermeintlich) unentbehrlich machen kann. Es braucht nicht viel Fantasie, um das erste und scheinbar einzige zwingende Thema zu benennen: Sicherheit. Polizeipräsidentin von München ist die parteilose Frau Dr. Selin Alici, Muslima mit türkischem Migrationshintergrund und zudem lesbisch. Welches Wunder mag diese Konstellation wohl bewirkt haben?

Auf recht plakative Weise werden in Olga Bachs Theaterstück die Weltanschauungen der einzelnen Protagonisten aufgeblättert. Taktiererei, Korruption, Heuchelei und Bürokratie, also die naturgemäßen systemimmanenten Eigenschaften, erregen kaum noch die Gemüter. Das ist "business as usual". Genauer betrachtet stellen sich aber auch Frauenfeindlichkeit, männlicher Chauvinismus, Ausländerhass und religiöse Intoleranz ein. Wichtigster Vertreter dieser Charakterlosigkeiten ist Dr. Edmund Bauer, Leiter der Abteilung Öffentliche Sicherheit im bayerischen Innenministerium. Als Christsozialer verschanzt er sich hinter „Volkes und Gottes Stimme“. Bei Schnitzler heißt der Mann, nomen est omen, Tugendvetter.

Dann wird ruchbar, dass eine Gruppe einen Anschlag auf Politiker und Aktivisten plant. Sämtliche Verdächtige sind im Besitz von Waffenbesitzkarten und Waffen. Für Dr. Alici sind es, nachdem man deren Gesinnung kennt, Gefährder. Sie gehören der Bewegung „Proaktiv fürs Abendland“ an. In die heutige politische Realität übersetzt heißt das „Reichsbürger“. Für Dr. Bauer hingegen sind diese Subjekte unbescholtene Bürger mit Waffenbesitzkarten und zudem wackere Waidmänner. Im Übrigen ist der Leiter der Abteilung Staatsschutz bei der Polizei, Albert Schwarz, ebenfalls Mitglied bei „Proaktiv fürs Abendland“, genauso wie der Anwalt Franz Fischer. Dr. Alici folgt ihrem Instinkt und bringt das Gesetz zur Anwendung. Franz Fischer, Anwalt eines Inhaftierten plädiert auf sofortige Entlassung aus der Haft wegen Haftunfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen. Doch der Anwalt ist nicht bereit, die Krankenakte vorzulegen. Der Inhaftierte stirbt und Frau Dr. Alici wird der Prozess gemacht. Am Ende kommt sie frei, das Gesetz bestraft sie nicht.

  Doktor Alici  
 

Thomas Hauser, Hürdem Riethmüller, Jelena Kuljić, Samouil Stoyanov, Michael Gempart, Christian Löber, Damian Rebgetz (v.l.n.r.)

© Armin Smailovic

 

Der eine oder andere Zuschauer wird sich gefragt haben, warum eine Vielzahl juristischer Spitzfindigkeiten, Klauseln und Erklärungen Eingang in das Stück fanden. Die Antwort ist einfach. Olga Bach studiert seit 2014 Rechtswissenschaften. Das erklärt ihr besonderes Interesse an Fragen wie: Bedeutet Recht haben auch Recht bekommen? Dr. Alici fällt eine Entscheidung, die moralisch unanfechtbar ist, die sie allerdings vor das Buchstabentribunal der Rechtsprechung bringt. Kurz gesagt, ein gefälliges Konstrukt aus modernster, liberalster und demokratischster Ideen, in persona Dr. Alici, steht einer übermächtigen braunversifften Bande gegenüber, die das Gesetz und einen dumpfen Patriotismus nutzen, um der Demokratie den Todesstoß zu versetzen. Soviel Dramatik darf sein, schließlich reden wir über Theater. Der Konflikt war also recht überschaubar, die Protagonisten klischeehaft und, selbst wenn man keine Kenntnis vom Schnitzlerschen Werk hatte, der Fortgang vorhersehbar. Überraschend immerhin war bei der Gemengelage, dass Frau Dr. Alici die Geschichte nicht nur überlebte, sondern überstand.

Erstaunlich war indes auch der hochartifizielle Ansatz des Regisseurs Ersan Mondtag für dieses, man möchte es fast politisches Dokudrama nennen. Für seine Inszenierung hatte er sich von Nina Peller ein schrillfarbiges Haus errichten lassen, das teilweise sogar dem Regen standhielt. Davon gab es reichlich! Wenn schwarze, lemurenhafte Gestalten, die in einigen Szenen auch Bedrohlichkeit signalisierten, es drehten, konnte man in das Haus hineinschauen wie in eine Puppenstube. Im Obergeschoss befand sich der Wohnraum von Frau Dr. Alici, in dem auch „Konferenzen“ abgehalten wurden, was wohl bedeutete, dass es auch ein Amtsraum war. Im Entree befand sich ein lebensgroßes Kruzifix, an das jedoch nicht Herr Jesus Christus genagelt war, sondern eine dralle, fast gänzlich entkleidete Dame. Man konnte es also, den Kruzifixerlass Herrn Söders im Hinterkopf, als das „wohlbestellte Haus“ der Polizeidirektion verstehen.

Es begann mit den üblichen Mätzchen, Thomas Hauser lugte durch den Vorhang, begrüßte den einen oder anderen (Un-)Bekannten, fragte nach, ob Matthias da und ob Brigitte Hobmeier gekommen sei, sie wollte kommen, drehte ein Selfie-Movie mit Publikum, um es der Mutter zu schicken, die in einem Langstreckenflug gefangen war. Schließlich erwähnte er, dass er von der Falckenberg-Schule geflogen sei und man wusste, hier gibt sich der Spielleiter Ersan Mondtag zu erkennen. Nachdem diese Eitelkeiten abgearbeitet und die Verbrüderung mit dem willigen Publikum vollzogen war, kam die Frage: „Wo sind meine Figuren?“ Das Spiel begann und schnell wurde klar, hier agieren tatsächlich Figuren. Hölzern und emotionslos spulten sie ihre Texte ab. Dabei waren die Figuren mehr holzschnittartige Archetypen, roboterhaft gefangen in einer starren Mechanik, als typische Charaktere. Die Kostüme von Teresa Vergho waren, wie das ganze Spiel, auf Typisierung zugeschnitten. Menschliche Regungen wurden nur bei wenigen Darstellern sichtbar, so bei Hürdem Riethmüller als Dr. Alici und Jelena Kuljić als deren Geliebte Maria Aniaschwili. Und das wohl auch nur, weil beide gemeinsam einige Liebes/Leidesszenen hatten, die schwerlich emotionslos und mechanisch zu spielen waren. Menschliche Töne fanden sich naturgemäß auch im Gesang Jelena Kuljićs. Das war es dann aber auch schon. Die Texte waren mehr holzschnittartige Statements als Dialoge oder Monologe.

Es ging nicht zusammen, was gegensätzlicher kaum sein konnte: die konkreten Texte, die abstrakten Figurentypen und das überzeichnete hochartifizielle Interieur. Hinzu kam, dass es fast durchgängig regnete, was wohl einerseits den unaufhaltsamen Klimawandel andeutete, der sich apokalyptisch am Himmel aufblähte und andererseits als Metapher für den drohenden politischen Kollaps der Gesellschaft herhalten musste. Und ein Strommast sorgte für Verwunderung. Auch auf dem Prospekt im Bühnenhintergrund war eine Vielzahl solcher Relikte zu sehen. Vermutlich war er einzig zu dem Zweck installiert, um am Ende nach einem Blitzschlag einen donnernden Kurzschluss zu erzeugen, bei dem die Leitungen rissen und zu Boden stürzten.

Es mangelte bei vielem an innerer Logik und so stand man nach Ablauf von fast drei Stunden ein wenig ratlos einem Ereignis gegenüber, das einerseits Lehrstunde in Rechtswissenschaften und Realpolitik war, andererseits aus mystischem Grummeln aus dem Fundament oder den Kellern der Gesellschaft zu kommen schien und dem schrill bunten Versuch, alles unter einen Hut oder, besser, Regenschirm zu bekommen. Der Hinweis, dass das Gesetz als Instrument gegen die Demokratie verwendet werden kann, wird oder, dass immerhin die Gefahr dazu besteht, ist sicher nicht der Weisheit letzter Schluss. Darüber, wodurch sich ein guter Theaterabend auszeichnet, gibt es im Großen und Ganzen einen Konsens: Die Botschaft und die Form ihrer Vermittlung sollte fesselnd sein. Die Kunst besteht halt darin, beides zu verschmelzen. Über das Ergebnis urteilten die Zuschauer nicht einhellig, denn einige Buhrufe waren unüberhörbar.

Wolf Banitzki

 


Doktor Alici

von Olga Bach
nach „Professor Bernhardi“ von Arthur Schnitzler

Mit: Michael Gempart, Thomas Hauser, Jelena Kuljić, Christian Löber, Damian Rebgetz, Hürdem Riethmüller, Samouil Stoyanov

Inszenierung: Ersan Mondtag