Kammerspiele Iphigenie auf Tauris von J.W. v. Goethe


 

 

Ist Humanismus nur eine Chimäre?

Tauris ist die heutige Krim und war Barbarenland zu Zeiten des Trojanischen Krieges. Ausgerechnet bei den "Barbaren" fand Iphigenie freundliche Aufnahme, als Göttin Diana sie dorthin verbrachte, um sie der Kriegslüsternheit ihres Vaters Agamemnon zu entreißen. Der nämlich hatte sie opfern wollen, um guten Wind für die Reise zum Kriegschauplatz zu erbitten. Wie, fragt man sich angesichts der Geschichte, unterscheiden sich Barbaren von Griechen? Thoas, König von Taurien, hat anfangs so gar nichts barbarisches. Er erlaubt seiner neuen Priesterin, einen Brauch abzuschaffen, der den Tod jedes Neuankömmlings auf der Insel forderte. Doch sein Sinn wandelt sich, als Iphigenie seinem Werben eine Abfuhr erteilt. Immerhin bleibt er fair und verspricht, ihr nicht im Wege zu stehen, wenn sie die Insel heimwärts verlassen möchte. Doch um die Götter zu befrieden wird der barbarische Brauch wieder eingeführt. Fatalerweise ist der erste Neuankömmling auf der Insel Orest, Bruder Iphigenies. Gemeinsam mit Pylades war der von Wahnsinn geplagte Bruder, immerhin hatte er die eigene Mutter ins Jenseits befördert, aufgebrochen, um die Schwester heimzuholen. So hatte es Apollon gewünscht. Orest allerdings glaubte, er solle das Bildnis der Diana stehlen, der Schwester Apollons. Man merkt bereits den Hintersinn und sieht, von göttlicher Weissagung unterlegt, das Happy End.

Vorlage für Goethes Werk war die "Iphigenie auf Tauris" von Euripides. Der alte Tragöde verhalf der Geschichte zu einem gänzlich anderen Schluss als sein späterer Kollege. Er hintertrieb die barbarischen Gesetze mit griechischer List (die auch nicht tugendhaft war) und ließ schließlich Athene auftreten, die Thoas in seine menschlichen Grenzen wies. Bei Goethe obsiegt die moralische Kraft und die humanistische Haltung Iphigenies über das Barbarentum.

 

   
 

Sebastian Weber, Christoph Luser, Fabian Hinrichs, Annette Paulmann, Wolfgang Pregler

© Andreas Pohlmann

 

Selbst wenn man die blutrünstige Geschichte der Atriden einmal außer Acht lässt, erscheint die Geschichte höchst sonderbar, was das Verständnis von Humanismus und Barbarei anbelangt. Sämtliche Griechen, die sich den Barbaren so überlegen fühlen, baden im Blut der eigenen Angehörigen. Keine noch so üble Intrige ist ihnen fremd. Die Barbaren hingegen sind nicht selten Opfer dieser Griechen.

So verwundert es nicht, dass das Goethesche Werk einer Dauerdepression gleicht. Iphigenie, die bereits als Kind nach Taurien kam, leidet unter der unsäglichen Geschichte ihrer Vorfahren, die sie nicht gekannt hat. Sie sehnt sich nach dem Vater, der sie für guten Wind geopfert hat und beklagt den Bruder, der zum Mord an Mutter und Stiefvater "gezwungen" war. Übrigens tötete Klytämnestra, Iphigenies Mutter, ihren Ehemann, nachdem sie erfuhr, dass der die eigene Tochter auf den Opferstein geschickt hatte. Diese Tat scheint zumindest logisch, wenn auch verdammenswert. Alle diese sonderbaren Verstrickungen, deren moralische Logik doch höchst fragwürdig ist, dienten Goethe für einen Triumph des Humanismus. Es sei erlaubt, auch Goethes Stück für fragwürdig zu halten. Wenn es heute noch immer den Weg auf die Bühnen findet, dann wohl, weil es von Goethe stammt. Tatsächlich ist es sprachlich keineswegs der große Wurf, für den es Goethe hielt. Er schrieb 1787, dass er die "schlotternde Prosa" der ersten Fassung von 1779 überwunden habe und zu einem "gemeßnern Schritt" gelangt sei. Mitnichten! Zwar benutzte Goethe für die Versfassung von 1786 den Blankvers, der doch immerhin der Dramensprache seit Shakespeare und in Deutschland seit Lessing eine neue Klarheit verlieh, doch experimentierte er, um zu einer das "Griechische anwehende" Sprache zu gelangen. Heraus kamen Manierismen und schwer erträgliche Lyrismen, - alles in allem eine ziemlich verblasene Sprache, die wenig mit der Dichtung der Antiken gemein hat. Vielleicht hätte er Hölderlins Übersetzungen nicht als blödsinnig abtun und von ihnen lernen sollen.

Wie wichtig die Uraufführung eines Stückes für das Überleben des Werkes ist, weiß inzwischen schon jeder normale Theatergänger. Die UA von "Iphigenie" besorgte Schiller, der wirkliche Dramatiker von beiden. Er straffte das Stück, strich und beseelte das eher fade Seelendrama mit eigenem Feuer. Regisseur Anton Genast berichtete, dass Schiller "uns alle durch sein Feuer und seine Phantasie zur Begeisterung" hingerissen habe. Schwer vorstellbar, angesichts des Goetheschen Textes.

Warum diese schier endlosen Auslassungen über Geschichte und Inszenierungstradition, werden sie fragen? Um glaubhaft vermitteln zu können, dass die Inszenierung dieses als mittelmäßig eingestuften Stückes an den Kammerspielen unter der Regie von Laurent Chétouane eine künstlerische Großtat war. Es steht außer Frage, dass viele Zuschauer widersprechen werden. Mit Recht, denn ihre Seh- und Hörgewohnheiten werden nicht bedient, ihre Geduld wird in den drei Stunden auf die Probe gestellt und zugempfindlichen Menschen und Allergikern sei gleich ganz abgeraten. Dennoch sei diese Inszenierung empfohlen. Die karge Ästhetik von Laurent Chétouane schafft einen großen Raum in dessen Weite Menschen und Götter agieren, ohne sich sonderlich zu bewegen. Zwei große Windmaschinen sind alles, was das Bühnenbild von Katrin Brack zu bieten hat. Wozu auch mehr, denn der Wind spielt eine große Rolle, ist er doch der Atem der Götter. Zudem ist man auf einer Insel und dort ist es windig.

Der Regisseur hatte den Text kräftig gegen den Strich gebürstet, ließ Iphigenie von Fabian Hinrichs spielen und die Texte gegen alle Regeln der (Goetheschen) Kunst sprechen. Das erzeugte Faszination, denn plötzlich hörte man Textpassagen, deren Sinn sich scheinbar gegen sich selbst verkehrte. Die Ästhetik, die darauf zielte, das menschliche Individuum als einsames, durch das Schicksal in die Welt geworfenes Wesen darzustellen wurde übermächtig. Und nur so wurde die "Gretchenfrage" glaubhaft, die hier lautete: Gibt es einen Humanismus oder ist dieser Gedanke nur eine Chimäre. Nein, das war nicht Goethes Anliegen. Der glaubte an die Macht das Humanismus und Laurent Chétouane zeigt unmissverständlich auf, dass es sich immer nur um einen Glauben handelt. Er stellte uns, den Zuschauern diese Gretchenfrage und jeder musste diese für sich beantworten. Das war provokant, angesichts der Realität aber unvermeidbar.

Laurent Chétouane verlangte seinem Publikum sehr viel ab. Doch er gab auch. Er zeigte, welche Macht eine Pause haben kann; er zeigte, welche Dimension einzelne Wörter entwickeln können, wenn sie in neuer Lesart präsentiert werden. Die Inszenierung ist eine Hommage an die Langsamkeit und sie ist der Beweis für die Schwächen des Goetheschen Textes. Den Schauspielern gebührt durchgängig großer Respekt, denn sie tragen ein echtes theatralisches Experiment mit. Das Risiko ist hoch und sie werden sicherlich manche Schmähung dafür einstecken müssen. Aber es lohnt sich!

Wolf Banitzki

 

 


Iphigenie auf Tauris

von J.W. v. Goethe

Fabian Hinrichs, Annette Paulmann, Wolfgang Pregler, Sebastian Weber, Christoph Luser

Regie: Laurent Chétouane
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