Kammerspiele Endstation Sehnsucht von Tennessee Williams


 

 
Zeitgenössische Spielart des Morbiden

Zwei Welten prallen in einer Familie aufeinander, die des Südstaaten-Geldadels, repräsentiert von Blanche DuBois, und die der modernen Industrienomaden, verkörpert von dem polnischen Einwanderer Stanley Kowalski und seiner Frau Stella DuBois. Dieser Konflikt beschreibt Dekadenz und Neuanfang in einem. Es ist eine große Elegie auf einen Kulturverlust, der die Entwicklung menschlicher Beziehungen hin zu einer fundamentalen Oberflächlichkeit dokumentiert. Es stehen sich müde Poesie und rüde Selbstbehauptung gegenüber. Der Konflikt wächst sich soweit aus, dass das Element der Vergangenheit als ein pathologisches ausgemacht wird. Dabei geht es nur um eines, um Liebe und Geliebtwerden.

Blanche DuBois, die feingeistige Lehrerin, inzwischen dem Alkohol und einer verzweifelten Illusion von sich selbst verfallen, die sich seelenwund und die Realitäten verkennend an die alte Lebensweise klammert, fand sich irgendwann in Stundenhotels wieder, verfiel den menschlichen Berührungen, die, ob ihrer physischen Oberflächlichkeit, keine mehr waren. Inbesitznahme trat an die Stelle von Hingabe. Ein fragwürdiger Ruf beginnt ihr anzuhaften, eilt ihr voraus und begleitet sie bis in den Untergang. Der wurde Realität, als sie das Haus ihrer Schwester in einem herunter gekommenen Vorort von New Orleans betritt.

Hier trifft sie auf Stanley Kowalski, der den Gegenentwurf zur untergehenden Kultur einer vermeintlichen „Belle Epoque“ verkörpert, ein Mann, grobschlächtig, kraftvoll, rüde und vornehmlich mit dem Kleinhirn denkend. Kowalski ist Pragmatiker. Er ist hineingeboren in diesen Habitus, weil er „Unten“ lebt, dort, wo man stets bereit sein muss, um sich zu beißen. In dieser sozialen Schicht neigt man zu Rottenbildung. So scharen sich um Kowalski Figuren wie Steve, ein höchst lebendiger Mann, dessen Vitalität auf den Körper von Eunice fokussiert ist, und Pablo, einem Sauf- und Pokerkumpan. Inmitten dieser Rotte gibt es aber auch Mitch, ungebildet, jedoch sensibel und schüchtern, der von Blanche bald zu ihrem Rettungsring auserkoren wird. Er ist das gefühlvolle Bindeglied zwischen beiden Welten.

Tennessee Williams schrieb sein Stück, das 1947 unter der Spielleitung von Elia Kazan im Barrymore Theatre in New York das Scheinwerferlicht der Bühne erblickte, unter dem Einfluss des 2. Weltkriegs, ein Ereignis, das wie kein anderes die Welt auf den Kopf stellte. In diesem Krieg starben nicht nur Millionen von Menschen, sondern auch die Kultur des Idealismus. An seine Stelle trat der Pragmatismus, in dem sich die Menschen  gnadenlos einer kapitalregierten Welt auslieferten. In dessen Ergebnis standen sich nur noch rudimentär erhalten gebliebene elegische Sehnsüchte nach dem Menschsein in kultureller Behaglichkeit und auf Selbstentfremdung basierende Lebensgier, der Drang, nach „Oben“ zu kommen, gegenüber. Das Thema ist in seiner Dimensionalität, die sinngemäß in dem Satz von Blanche DuBois: ‚Ich lebe nicht in dieser Welt; ich lebe in einer Welt, wie sie sein sollte.’ gipfelt, kaum zu fassen. Und so muss sich jede Inszenierung des Stückes auch daran messen lassen, in wieweit sie diese Dimensionen auszuloten vermag.
 
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Wiebke Puls, Lasse Myhr, Steven Scharf, Tim Erny, Tabea Bettin

© Sebastian Hoppe

 

 

Regisseur  Sebastian Nübling inszenierte mit Verve, aktionsgeladen, körperbetont und gelegentlich auch chaotisch. Das beförderte den Schau- und Unterhaltungswert des Stückes, produzierte aber Oberflächlichkeiten und nahm dem Text die Tiefe. Als Beispiel sei ein Dialog zwischen Blanche und Mitch beschrieben. Mitch zeigte Blanche eine „Gravierung“; Blanche verbesserte und meinte, es heiße „Gravur“. Dieser Vorgang, der auf feinsinnigste Weise auf den Unterschied der Kulturen verwies, wurde hier zum Bühnenwitz. Auch wurden circensische Einlagen nicht ausgespart. Ein Wettrennen durch das Haus dokumentierte auf verblüffende Weise die physischen Fähigkeiten der Schauspieler, beschrieb zudem die überbordernde Vitalität der Rollen. Nicht gewahrt wurde die Verhältnismäßigkeit zwischen Handlungstext und Handlung.

Fast zehn Minuten lang bezogen die Darsteller zu Beginn das Vororthaus von New Orleans, von Bühnenbildnerin Muriel Gerstner als unbewohntes Domizil mit türenlosen Holzwänden, Räume für Intimitäten gab es nicht mehr, lediglich angedeutet. Es wurde tapeziert, gehämmert, gebohrt, Teppiche ausgelegt, Möbel hereingetragen und Unordnung geschaffen. Dieses Vorspiel suggerierte in seiner fragmentarischen Beliebigkeit, dass es so etwas wie ein „Heim“ nicht mehr gibt, mehr noch, dass kein wirklicher Bedarf dafür vorhanden scheint. In diese Szenerie hinein trat Blanche, groß, schwarz und nervig, mit zwingender Präsenz durch eine herausragende Wiebke Puls gestaltet. Im Stück muss Blanche, eine tragische Gestalt, gegen alle anderen antreten. In Nüblings Inszenierung ging Blanche mit Grandezza, von den Pannen bei der Premiere einmal abgesehen, unter.

Es gab nur einen Darsteller, dem es gelang, ihren Untergang glaubhaft zu kontrastieren: Steven Scharf in der Rolle des Stanley Kowalski. Scharf, der das Vermögen besitzt, wie ein zu groß gewordenes Kind zu wirken, vermag ebenso den Anschein von männlicher Brutalität zu erwecken, die Schaudern macht. Neben Jochen Noch, der einen geradezu verklemmten, in sich selbst gefangenen, mitleiderweckenden Mitch gab, agierten Tabea Bettin und Lasse Myhr dramaturgisch wie Trabanten in einem rasenden Kosmos. Tabea Bettins Eunice verhandelte den lakonischen, emotional kaum berührbaren Habitus einer Supermarktkassiererin. Lasse Myhr, ein Darsteller mit zwingender Charakteristik in Stimme und körperlichem Gestus, war als Steve auf naive Weise komisch. Diese Komik resultierte aus scheinbarer  mangelnder Anteilnahme an den Vorgängen und seiner, sich in artistischen Einlagen manifestierenden Vitalität. Recht zweidimensional agierte hingegen Katja Bürkle als Schwester Stella. Ihrem Leidensweg von der alten in die neue Welt, zumeist überschattet von den Brutalitäten ihres Mannes Stanley, entgegnete sie mit in die Hüften gestemmten Fäusten. Dabei blieb ihr weiblicher Charme, der zumindest ihre Herkunft hätte erklären können, weitestgehend auf der Strecke. Visuell, nur visuell, da ohne Text, setzte Tim Erny als Pablo einen unauslöschlichen Akzent. Er war dick, sehr dick.

Ohne Frage kann man Platos Erkenntnis, ‚ Alles wert ist, dass es zugrunde geht’, zustimmen. Doch darf dabei der Grund, das kulturelle Sediment, nicht vergessen werden. Auslöschung ist etwas anderes als zugrunde gehen und wenn wir dem Untergang einer Kultur beiwohnen, braucht es eben diesen Grund, um Trauer – oder zumindest Traurigkeit – empfinden zu können. Eben diese Traurigkeit über einen Verlust blieb die vom Premierenpublikum heftig beklatschte Inszenierung, eine zeitgenössische Spielart des Morbiden, schuldig.

 
Wolf Banitzki

 

 


Endstation Sehnsucht

von Tennessee Williams

Wiebke Puls, Katja Bürkle, Steven Scharf, Jochen Noch, Tabea Bettin, Lasse Myhr, Keanu Wilkins  

Regie: Sebastian Nübling
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