Kammerspiele Sommergäste / Nachtasyl von Maxim Gorki


 

 

Schaler Nachgeschmack

Der Mann, der sich Maxim Gorki nannte, hieß Alexej Peschkow. Nach dem Erscheinen erster Erzählungen in Provinzzeitungen entschied er sich für ein Schriftstellerdasein, und schon die Wahl des Pseudonyms war Programm: Gorki bedeutet „der Bittere“.  Geboren als Sohn eines Sklaven, eines Wolga-Treidlers, erlebte er bitterste Armut und Elend. Neunzehnjährig hatte sich der leidenschaftliche Dichter aus Gram darüber, dass ihm eine höhere akademische Bildung versagt bleiben sollte, eine Kugel in die Brust geschossen. Er überlebte, legte aber mit der Verwundung den Grundstein für eine Tuberkulose.
Die Landstraßen, er durchwanderte halb Russland, wurden seine Universitäten und die lehrten ihn, dass die Welt nicht menschlich eingerichtet war. Bald geriet er in den Sog revolutionärer Umtriebe; er war auf Seiten der Sozialdemokraten an den Vorgängen des gescheiterten Umsturzes 1905 beteiligt, wurde verhaftet und eingesperrt. Auf Kaution freigekommen, floh er über Berlin nach Paris. In Berlin feierte ihn Max Reinhardt mit einer Sondervorstellung. In den folgenden Jahren etablierte sich Gorki als ein Geist des Widerstandes, sowohl gegen die zaristischen Verhältnisse in Russland, als auch gegen den Kapitalismus der westlichen Welt. Sieben Jahre hielt der inzwischen weltberühmte Autor auf Capri Hof, empfing unzählige Russen, unterstützte Bedürftige und vor allem Hoffnungslose. Sein revolutionäres Wirken hatte religiöse Züge, was ihn im eigenen Heimatland vor allem nach der Revolution 1917 suspekt machte.

Die Münchner Kammerspiele brachten jetzt die beiden Stücke „Sommergäste“ und „Nachtasyl“ auf die Bühne. „Nachtasyl“, ein Drama über die Hoffnungslosesten unter den Hoffnungslosen, machte den Dichter weltbekannt. Es ist ein wuchtiges und schonungsloses Stück, das nicht geschrieben wurde, wie im Programmheft angedeutet, um einen Anflug von Pessimismus beim Autor erkennen zu lassen, sondern um rigoros deutlich zu machen, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse unhaltbar geworden waren und ein Veränderung unabdingbar sei. Im Gegensatz dazu beschreibt „Sommergäste“ den geistigen Zustand der Intelligenzija im Russland nach der Wende zum 20. Jahrhundert. Beide Stücke weisen deutliche Parallelen auf. Beiden gesellschaftlichen Schichten ist ein urrussischer Wesenszug eigen, nämlich die scheinbare Unfähigkeit zu handeln. Stichwort: Oblomowtum. (Siehe Kritik zu „Platonow“ von Tschechow an den Münchner Kammerspielen.) Während in „Sommergäste“ die müden, schlaffen Helden ihre Langeweile und ihren Verdruss verwalten, versuchen die Protagonisten in „Nachtasyl“ ihr Elend zu bemänteln und zu begrenzen. In beiden Geschichten gibt es keine überzeugenden Hoffnungsträger, aber immerhin soziale und philosophische Ideen, die davon zeugen, dass aktives Handeln ein Ausweg aus dem Dilemma sein könnte.

Karin Henkel sah die Parallelen beider Stücke und inszenierte sie als „theatrales Doppelprojekt“. (Hoffentlich kommt Derartiges nicht in Mode!) Grundgedanke dabei war, die geistig und moralisch verwahrlosten Gesellschaften in einem Raum zusammen zu bringen: In einem Nachtasyl. So beklagen sich die Sommergäste über ihre zugige und die Äußerlichkeiten nicht mehr abhaltende Behausung. Unaufhaltsamer Verfall herrscht allerorten. Dennoch haben die Dialoge auf Grund ihres dekadent-zynischen Witzes eine erstaunliche Leichtigkeit, fordern geradezu eine lustvoll-komödiantische Umsetzung heraus. Die Nähe des 1904 uraufgeführten Stückes zu den Stücken von Tschechow ist schwerlich zu übersehen. Es ist, um es landläufig zu formulieren, ein „schwacher Tschechow“. Allerdings geht Gorki deutlich über den großen Realisten hinaus, wenn er die Ärztin Maria Lwowna politische Überzeugungen einbringen lässt, die darauf zielen, dass sich die Intelligenzija mit der Arbeiterklasse verbünden muss. Bei aller Ideologie, die den „lehrhaften Predigten“ (Stanislawski) eigen ist, blieb das Komödienhafte erhalten, und Regisseurin Karin Henkel zauberte daraus eine spitzfindige, witzige und schlagfertige Bühnenfassung.

 
  sommergaeste  
 

René Dumont, Angelika Richter, Paul Herwig, Wolfgang Pregler, Annette Paulmann

© Arno Declair

 
 
Es ist ein Reigen von Intrigen, Betrügereien und mentalem Aufbegehren, der letztlich immer wieder in Agonie endet. Häusliches Oberhaupt ist der Rechtsanwalt Bassow. Jochen Noch gab einen polternden, unsensiblen Mann, der immer wieder über seine Einsicht stolperte, dass auch er nur ein nutzloses Geschöpf ist. Doch er hatte sich behaglich eingerichtet in seiner fadenscheinigen Existenz. Brüchig wurde diese Wunschvorstellung, wenn er sich mit der erkalteten Beziehung zu seiner Frau Warwara konfrontiert sah. Kathja Bürkle spielte diese Figur sperrig und unnahbar. Caroline Ebner war die Exotin des Abends. Als Kalerija gab sie eine weltabgewandte Künstlerin, deren Drang nach Welterfahrung deutliche esoterische Züge annahm. Ohne Frage schuf sie eine sehr heutige Gestalt, die sich im Netz der Orientierungslosigkeit verfangen hatte. Annette Paulmann setzte sich in der Rolle der Marja Lwowna als „Pfahl im Fleisch“ in Szene. Ihre Auftritte hatten etwas Unwetterartiges. Dieser Person wagte letztlich niemand offen zu wiedersprechen, denn nicht nur ihre einschüchterne Weiblichkeit zeigte den Männern Grenzen auf, auch die Inhalte ihrer sozialen Ideen, stets als Anklage gegen die Gesellschaft der Sommergäste formuliert, schüchterten ein, verängstigten die parlierenden Tagediebe. Nico Holonics gab in der Rolle des Wlas ein bemerkenswertes Debüt in den Kammerspielen. Sein Spiel ergänzte das großartige Ensemblespiel um die wichtige Facette der jugendlichen Verzweiflung.

Karin Henkel hatte es bestens verstanden, die Darsteller zu einem eindeutigen Rollenverständnis zu führen. Heraus kam ein wunderbar geschlossenes Bild, das sich aus deutlichen Charakteren formierte. Alle Gestalten hatten komische und tragische Züge zugleich. Im Spielraum von Stefan Mayer war charaktervolles Spiel vonnöten, denn der Bühnenraum war weitestgehend leer und schwarz. Die Seiten wurden begrenzt von Jalousien aus Gummiband. So konnten die Figuren quasi durch die maroden, durchlässigen Wände schlüpfen. Dennoch entstand in dieser Kargheit Atmosphäre. Wenn die Wände partiell gegeneinander verschoben wurden, kamen kahle Bäume zum Vorschein.

Bis zur Pause war sich das Publikum vermutlich einig: Hier war Theater von höchster künstlerischer Qualität überaus lustvoll zu erleben. Im Rahmen einer überzeugenden ästhetischen Geschlossenheit agierten Darsteller, die keinen Satz verschenkten und jede Pointe ausspielten. Es war ein echter Hochgenuss. Doch dann endete das Stück „Sommergäste“ zu Beginn des zweiten Teils in einer wüsten Schlägerei und als wieder Ruhe eintrat, fanden sich die Darsteller und die Zuschauer im „Nachtasyl“ wieder. Die Ambition der Regisseurin war unverkennbar. Der Niedergang der Gesellschaft von nutzlosen Intelligenzlern war nur die Ouvertüre für das scheinbar Unvermeidliche, den sozialen Abstieg auf die unterste Ebene. Das erschien auf den ersten Blick plausibel, da sich die Figuren in „Nachtasyl“ zu keinem Zeitpunkt ihr Scheitern eingestehen wollten. Sie betrachteten ihren Zustand nur als temporär.

Frau Henkel hatte für diesen Part eine Strichfassung erstellt, die vom Stück wenig, deutlich zu wenig übrig ließ. Ein Drama wie „Nachtasyl“ kann unmöglich als Fragment seine kathartische Wirkung entfalten. Die menschlichen Katastrophen wurden peripher eingestreut und letztlich nicht zum Höhepunkt gebracht. Die Spielfassung blieb indifferent und konnte ihren Patchwork-Charakter nicht leugnen. Der Abend erlitt eine künstlerische Interruption, was umso trauriger stimmte, da er überaus furios begann.

Künstlerische Ambition hin oder her, die Regisseurin wäre besser gefahren, wenn sie es bei „Sommergäste“ belassen hätte. Ein Erfolg wäre ihr gewiss gewesen. Es ist eine alte Bühnenweisheit, dass der Zuschauer sich an die letzten Empfindungen immer am deutlichsten erinnert. Zuletzt blieb beim Betrachter ein schaler Geschmack, da „Nachtasyl“ etliche Längen aufwies, die Komödiantik aus „Sommergäste“ nicht übernommen werden konnte und, wie bereits erwähnt, die Vorlage inhaltlich nicht aus einem Guss war.

Beide Stücke sind trotz aller inneren Parallelen in der Ästhetik sehr unterschiedlich. Der Regie gelang es nicht (konnte es wohl auch nicht gelingen), die beiden Welten zusammenzuführen. Darum kränkelte auch dieses „theatrale Doppelprojekt“ an der Respektlosigkeit zwei Dramen gegenüber, denen man eigentlich, wie die Inszenierungstradition beweist, vorbehaltlos vertrauen könnte. Bei allen Schwächen, die beide Stücke aufweisen, sind die Dramen doch allemal sehr organisch. Transplantationen führen dabei mit ziemlicher Sicherheit zum Handicap.

 
Wolf Banitzki

 


Sommergäste / Nachtasyl

von Maxim Gorki

Jochen Noch,  Katja Bürkle,  Caroline Ebner,  Nico Holonics, Wolfgang Pregler, Lena Schwarz,  Stephan Bissmeier,  Angelika Richter,  René Dumont, Paul Herwig,  Annette Paulmann,  Walter Hess, Oliver Mallison

Regie: Karin Henkel
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