Kammerspiele Angst nach Stefan Zweig
Seinen Essay „Der Kampf mit den Dämonen“ (Hölderlin, Kleist, Nietzsche) widmete Stefan Zweig seinem Freund und Inspirator Sigmund Freund mit den Worten: „... dem eindringenden Geiste, dem anregenden Gestalter...“. Wie Freud hatte sich Zweig der tiefgründigen Vivisektion der menschlichen Seele verschrieben. Er fühlte sich dem großen Psychoanalytiker zutiefst verbunden und definierte sich selbst in sein Bemühen als Illustrator psychologischer Vorgänge. Zu den eindrucksvollsten Arbeiten zählt unbestritten die Novelle „Angst“, geschrieben 1910.
Die Heldin der Geschichte, Irene Wagner, lebt in ereignisloser Ehe mit einem erfolgreichen Juristen. In einem Salon begegnet sie dem Pianisten Eduard, der sich ihr auf unzweideutige Weise nähert. Sie ergibt sich ihm und führt ein Doppelleben. Einmal die Woche besucht sie ihren Geliebten. Dieses Ritual schafft Entspannung und Spannung zugleich, denn, wann immer sie Eduard verlässt, plagt sie das Gewissen. Die Angst vor Entdeckung ist allgegenwärtig. Eines Tages wird sie nach einem Nachmittag in den Armen des Geliebten vor dessen Haus von einer Frau abgefangen. Die beschuldigt Irene, ihr den Freund ausgespannt zu haben. Für den Moment kauft sich Irene mit einem größeren Schein frei. Doch dieser Akt der Erpressung beginnt sich zu wiederholen und die Forderungen der Frau aus einer sozialen Unterschicht werden immer dreister. Irene befindet sich in dem Konflikt, die Wahrheit zu offenbaren und die unhaltbare Situation zu beenden oder weiter mit der Angst vor Entdeckung zu leben. Es ist ihr nicht möglich, die Angst vor dem Verlust ihres bürgerlichen Standes und den damit verbundenen Privilegien zu überwinden. Am Ende nimmt die Verzweifelung überhand und sie beschließt, mittels Gift aus dem Leben zu scheiden. In diese Situation hinein platzt Irenes Ehemann und verhindert den Suizid. Dabei stellt sich heraus, dass die Erpresserin, eine arbeitslose Schauspielerin, vom Ehemann engagiert worden war. Die Erpressung war inszeniert, um Irene zur Wahrheit und zur Rückkehr in die familiäre Beschaulichkeit zu zwingen. Zweigs Umgang mit pathologischen Erscheinungen waren stets von tiefgründiger Dualität geleitet. Er betrachtete das Individuum nie losgelöst aus ihrem sozialen und gesellschaftlichen Umfeld. Das machte seine Literatur so reich und so wirkungsvoll.
Koen Tachelet schuf eine Spielfassung für die Münchner Kammerspiele, die von Jossi Wieler in Szene gesetzt wurde. Tachelets Text, dem eine gute Dramaturgie eigen ist, wurde überwiegend reflexiv erzählend gestaltet. So erfuhren die Zuschauer die Geschichte vornehmlich als szenische Prosa und nur selten als dramatisch erlebte Situationen. Es scheint, als müsse sich der Theatergänger auf diese Art der Dramatik einstellen, denn in München sind mit „Angst“ inzwischen fünf Prosatexte auf der Bühne (Hiob, Hotel Savoy, Kleiner Mann - Was nun?/Kammerspiele, Anna Karenina/Volkstheater). In allen Inszenierungen wurde dabei eines deutlich: Es entsteht kein dramatischer Spannungsbogen, wie man ihn aus einem gutgebauten Theaterstück kennt. Die Grenzüberschreitung hat einen hohen Preis und es bleibt zu hoffen, dass sich der Theatergänger nicht dran gewöhnen muss, weil es den Theatermachern beliebt. Es zeigt aber auch etwas anderes, nämlich, dass es scheinbar keine guten zeitgenössischen Theaterstücke gibt.
Elsie de Brauw, Katja Bürkle © Arno Declair |
Anja Rabes hatte Jossi Wieler eine funktionales Bühnenbild entworfen, das nur aus wenigen weißen Wänden mit Aussparungen für Ein- und Ausblicke, für Auf- und Abgänge bestand. Um den häuslichen Innenraum herum waren Lichtbänke im Tetrismuster gruppiert, die für die Schauspieler auch schon mal zum Parcours wurden. Wielers Regiekunst zeichnet sich hauptsächlich durch Verlangsamung der Vorgänge, durch Streckung der Zeit aus, wodurch viel Raum für sensibles Darstellen entsteht. Auch diese, beispielsweise an Jon Fosse Stücken erprobte und überaus wirkungsvolle Spielleitung, geriet wegen der erzählten und berichteten Passagen längst nicht so effektvoll. Einzig der Plot der Geschichte verblüffte und überzeugte, vermutlich jedoch nur die Zuschauer, die die Novelle nicht kannten.
Der Abend sollte Elsie de Brauw gehören. Sie war als Irene durchgängig präsent und agierte mit großem physischen und stimmlichen Einsatz. Gelegentlich trat dabei ihr niederländischer Akzent so deutlich ins Bewusstsein, dass er auch schon mal ablenkte. Was jedoch wirklich störte, war das selbstbewusste und starke Auftreten eine Irene, die in Zweigs Novelle durch ihre Angst zunehmend eingeschüchtert und psychisch zerstört wird. Elsie de Brauw erzählte den Zuschauern zwar, dass Irene unweigerlich auf den Suizid zusteuerte, ihr kraftvolles, laszives, lebensgieriges Spiel untergrub allerdings die Glaubhaftigkeit der inneren Notwendigkeit der Selbsttötung. Der von André Jung dargestellte Ehemann Fritz war dabei in seiner Beschränktheit viel stimmiger. Als Mann des Rechts waren ihm Selbstzweifel nicht eigen. Er zelebrierte die Spießbürgerlichkeit im Denken und im Sein mit entlarvender Selbstverliebtheit. Stefan Hunstein, dessen Rolle als Liebhaber Eduard nur wenig Text hatte, und dessen Figur irgendwann durch die Intrige aus dem Spiel fiel, überzeugte mit Gesten und Mienen der Rat- und Hilflosigkeit. Mehr wurde ihm kaum abverlangt. Katja Bürkle gab sowohl die Erpresserin als auch das Dienstmädchen. Durch die stark divergierende Darstellung beider Rollen bedurfte es mehr als einen zweiten Blick, um die Doppelbesetzung auszumachen. Das sprach für sich.
Ein bemerkenswerter Einfall beim Bühnenbild sorgte für die Sichtbarmachung innerer Vorgänge. Als Irene handlungsbedingt begann, den Boden der Realität unter ihren Füßen zu verlieren, gab auch der Bühnenboden nach, wurde kipplig und versetzte die Darstellerin in ein sichtbares Taumeln.
Alles in allem konnte die Inszenierung an den Münchner Kammerspielen nicht überzeugen. Die theatralische Umsetzung konnte der Wucht und der Intensität der literarischen Vorlage nicht gerecht werden. Zudem fragt man sich, wie relevant das Thema heutigentags noch ist. Längst haben sich Beziehungsmodelle entwickelt, die das Thema Ehebruch und eine daraus resultierende existenzielle Angst zu einer Marginalie des Lebens machen. Es gelang nicht überzeugend, diese Spielart bürgerlicher Bigotterie zu transportieren. Das Lesen der Novelle wäre der eindringlichere Weg gewesen, einen Exkurs über Psyche und Angst zu halten.
Wolf Banitzki
Angst
nach der Novelle von Stefan Zweig in einer Fassung von Koen Tachelet
Katja Bürkle, Elsie de Brauw, Lena Anderle/ Hanna Merki, Stefan Hunstein, Johannes Geller/ Julian Olivi, André Jung Regie: Jossi Wieler |