Kammerspiele Winterreise von Elfriede Jelinek
Apocalypse Now
Es ist erstaunlich, wie weit ein Dichter oder Dichterin gelangen kann, wenn er oder sie beinahe ausschließlich über sich selbst, über die eigenen Ängste und psychischen Deformationen fabuliert. Ein kluger Mensch sagte einmal, man muss nur lange genug durchhalten, dann stellt sich die Anerkennung zwangsläufig ein. Thomas Bernhard war so ein Dichter, der neben Durchhaltevermögen auch den unbedingte Willen zum Ruhm hatte. Ist das eine österreichische Tugend? Elfriede Jelinek ist, zumindest was diesen Ansatz anbelangt, Österreicherin. Doch während Thomas Bernhard Weltliteratur schuf, produziert Frau Jelinek vornehmlich Psychogramme über sich selbst. Wie Bernhard auch, stellt Elfriede Jelinek die Welt radikal infrage. Der Unterschied zwischen beiden besteht allerdings darin, dass der Eremit Bernhard nie aus der Welt gefallen war. Frau Jelinek ist es schon lange, und so müssen ihre Werke gelesen werden wie die Darstellung eines Kosmos, der so und nur so im Kopf der Dichterin existiert. Das hat zumindest großen Einfluss auf die Realitätsverbindlichkeit ihrer Werke.
Regisseur Johan Simons ließ in dem Interview mit dem Titel (Die) „existenzielle Erfahrung der Endlichkeit“ keinen Zweifel daran, dass der Text überaus persönlich ist. Doch welcher Text der Nobelpreisträgerin ist das nicht? Inspiratorischer Quell war die gleichnamige „Winterreise“ von Schubert/Müller. Die einfach-genialen Texte von Wilhelm Müller verführen, getragen von der kongenialen Musik Schuberts, geradezu zum Weiterdenken, zum Zuende-Denken. Jeder Müllersche Text für sich ist ein Universum, ein Artefakt für Identifikation.
Am Ende hatte Elfriede Jelinek kein Theaterstück geschaffen, sondern lebendige Bilder, die getrost gegeneinander verschoben werden können, weil sie nicht zwingend im Zusammenhang zueinander stehen. Da bedurfte es schon einer komplexen, einer forschenden Regie. Johan Simons besitzt die Fähigkeit zum tiefen Loten. Doch letztlich müssen die Mitglieder des Ensembles nicht als Rollenträger, sondern als Nachdenker mit menschlichen Eigenschaften und –arten begriffen werden.
„Fremd bin ich eingezogen, Fremd zieh' ich wieder aus.“ Die ersten Zeilen der Winterreise könnten durchaus als Motto des Abends herhalten. So philosophiert Stefan Hunstein über die Unmöglichkeit, in der Realität zu sein, denn kaum ist man angekommen, ist es schon wieder vorbei. Realität ist etwas unhaltbares, denn Zeit ist etwas unhaltbares. Johan Simons schuf sich für den apokalyptischen Reigen, anders stellen sich die Aussagen von Frau Jelinek nicht dar, selbst das Bühnenbild. Gespielt wurde vor dem Eisernen Vorhang. Die Vorderbühne, in den Zuschauerraum ragend, war mit groben Bohlen ausgelegt, und so kam die Gesellschaft in der zweiten Szene, von einem argen Schneesturm gebeutelt, in einer vermeintlichen Skihütte an. Dort wurde eine Hochzeit zelebriert. „Das Mädchen sprach von Liebe,/ Die Mutter gar von Eh' –/ Nun ist die Welt so trübe,/ Der Weg gehüllt in Schnee.“ So Wilhelm Müller.
Bei Elfriede Jelinek wird die Hochzeit zu einem Bankgeschäft, in der der Bräutigam ein bedauernswerter Hanswurst ist, denn, wer sich mit Banken einlässt, wird erst geschoren und dann fallen gelassen. Aber, es trifft ja gottlob keinen Armen. Benny Claessens Fülligkeit bekommt in seiner Rolle als Braut (hier Stiftung, in dem Man Geld verschwinden lässt) metaphorischen Charakter. Er ist die, im wahrsten Sinn des Wortes, schrille Verkörperung neoliberalen Unwesens.
Familie ist ein weiteres weites Feld, und da kann Frau Jelinek aus dem Nähkästchen plaudern. Christof Van Boven faszinierte als Kind durch präzise choreografierte Bewegungsabläufe, kindliche Gestik und nervöses Gehetztsein. Als das Kind stirbt, besteht die Nachlassverwaltung in hasserfüllten Attitüden über den Anspruch auf Öffentlichkeit. Hildgard Schmahl und Wiebke Puls ereifern sich weitschweifig und nicht selten unsinnig über die Nichtigkeit des Todes, der Aufmerksamkeit heischt. Nein, den Lebenden sollte Öffentlichkeit gebühren, denn sie haben sich vor langer Zeit immerhin schon in der Rinde des „Lindenbaums“ verewigt. Neidisches Gezeter ersetzt Lebensleistung.
Und um den Reigen apokalyptischer Schlaglichter, aus denen die Gesellschaft ausschließlich zu bestehen scheint, abzurunden, muss auch die Entführungsgeschichte von N. Kampusch herhalten. Rundumschläge sind nun einmal wahllos. Die Post, bei Müller Text Nr. 6, beschreibt in der Spielfassung an den Münchner Kammerspielen das Internet als eine menschliche Falle. Wiebke Puls spreizt sich in Begierde, um letztlich zu konstatieren, dass diese Post kein probates Mittel zur Sozialisation ist.
Nach der Pause vollendete André Jung das Bild von einer unlebbaren Welt als ein Vater, der von seiner Frau und Tochter in die Psychiatrie abgeschoben wird. Jung startet großartig intensiv und pointenreich in den Monolog. Doch er konnte die Spannung nicht halten, da sich der Text (es handelt sich um einen Verrückten) in überflüssigen Wiederholungen erging und insbesondere gegen Ende hin einige Längen aufwiesen, die die Theaterbesucher auf ihre Uhren schauen ließen. Schade, denn der Abend war ohne Frage sehr sehenswert.
Ungeachtet der Tatsache, dass sich im ganzen Text kein Fünkchen Hoffnung findet, überzeugte die Inszenierung von Simons durch atmosphärische Theatralik und durch das hervorragende Spiel der Darsteller. So fanden sich in der Apokalypse von Frau Jelinek, und als solche sieht sie scheinbar das menschliche Dasein, überaus komische und darum unterhaltsame Momente. Die Sprachartistik der Autorin, eine ihrer ganz wichtigen Tugenden, machte vom ersten Augenblick an neugierig und erzeugten einen Sog, der bis zum Ende des ersten Teils ungebrochen war.
Überragende Wirkung hatte zudem die musikalische Konzeption von Christoph Homberger, Martin Schütz und Jan Czajkowski, der als Pianist ins Spiel einbezogen war. An Schubert orientiert, Schubert zitierend und doch nicht Schubert seiend, war eine Musik entstanden, die das Spiel auf suggestivste Weise unterstrich. Die Klanginstallationen, Naturkatastrophen gleich, erzeugten ein existenzielles Schaudern. Johan Simons verarbeitete hier, wie in den Flutkatastrophenbildern zum Ende des ersten Teils eigene Erfahrungen. Allerdings deutete er, der religiös erzogen worden war, diese bedrohlichen Vorgänge positiv, galten sie ihm doch immerhin als Gottesbeweis. (Die „existenzielle Erfahrung der Endlichkeit“) Sein Verdienst bestand in erster Linie darin, einen zutiefst negativen Text, der keinerlei Hoffnung erlaubt, erträglich zu inszenieren. Für Frau Jelinek scheint die Welt bereits apokalyptisch zu sein. Stellt sich die Frage an die Autorin, war die Welt einmal anders? Und wenn ja, gibt es noch eine Chance auf eine lebenswerte Welt? Entschuldigung, aber diese Frage muss erlaubt sein.
Wolf Banitzki
UA Winterreise
von Elfriede Jelinek
Benny Claessens, Jan Czajkowski, Bendix Dethleffsen, Katja Herbers, Stefan Hunstein, André Jung, Wiebke Puls, Hildegard Schmahl, Kristof Van Boven Regie: Johan Simons |