Kammerspiele Orpheus steigt herab von Tennessee Williams


 

 

Blues über Einzelhaft in der eigenen Haut

Tennessee Williams Dramen atmen die feuchte, satte Schwüle des Südstaatenblues. Dank seiner Stücke und den Werken von William Faulkner avancierten die US amerikanischen Südstaaten zu einer geradezu „mythischen Provinz“ (Georg Hensel). Was kann man sich dramaturgisch besseres wünschen, als einen Spielort, an dem sich stellvertretend für die makrokosmischen Vorgänge, individuelle Katastrophen als natürliche menschliche Seinsform spiegeln. Gerade in der menschlichen Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit des psychologischen Realismus von Williams liegt seine Stärke und sein Erfolg, auch wenn sich so manche Geschichte in der Geschichte als Neurose und übersteigerte Empfindung entpuppt. Man kann sich ihnen dennoch nicht entziehen.

Ort der Handlung ist die fiktive Stadt Two River County. Hier bleibt der Nachtclub-Entertainer Val Xavier in einer Gewitternacht mit seinem Auto liegen. Im Haus von Sheriff Talbot gewährt dessen Ehefrau Vee  dem Mann in der Schlangenhautjacke Unterschlupf. Das Haus ist zugleich das Büro des Sheriffs, und so findet Val sein Nachtquartier in der Gefängniszelle. Das Bild ist bezeichnend, denn die Bewohner der Stadt, organisiert in einer Bürgerwehr, haben einen Bannkreis um ihren beschaulichen Ort gezogen, der alles Fremde fernhalten soll. So wurde Two River County zu einem Totenhaus oder zu einem inneren Kreis der Danteschen Hölle. Darin vegetiert Lady Torrance, die zusammen mit ihrem todkranken, tyrannischen Mann einen Gemischtwarenladen betreiben. Ladys Vater, ein italienischer Schnapsbrenner, war zu Tode gekommen, nachdem er „Niggern“ Schnaps verkauft hatte. In eben diesem Gemischtwarenladen findet Val Xavier Arbeit und Unterkunft. Das Geschäft boomt, denn wie schon der antike Orpheus mit seinem Gesang Steine zum Weinen brachte, wirkt die Andersartigkeit Vals wie ein Magnet, vornehmlich auf die weibliche Bevölkerung. Den Männern der Stadt ist er bald ein Dorn im Auge. Immerhin hat Val drei Verbündete. Da ist die Frau des Sheriffs, Vee Talbot, die vor all der Bigotterie, den Lügen und Brutalitäten in die Malerei geflüchtet ist. Belächelt und verlacht ist sie doch eine, die Zeichen sieht und sie auch deuten kann. Sie fungiert als Barometer für die emotionale Wetterlage im Ort. Und da ist Carol Cutrere, eine entwurzelte Ex-Kommunardin, die ihre Ziele längst gegen eine rauschhafte Apathie eingetauscht hat. Auch sie sieht die Gefahren. Das dritte Licht in der Finsternis ist Lady Torrance, die lebensgierige Süditalienerin, die täglich aufs Neue den Kampf gegen das Sterben aufnimmt. Sie ist eine starke Persönlichkeit, ebenso wie Val, und genau das besiegelt ihr Schicksal in einer Welt von Mittelmäßigkeit, Unterwerfung und Opportunismus.

Sebastian Nübling, dessen Name längst für künstlerische Kontinuität auf hohem Niveau steht, enttäuschte mit seiner nüchternen, unsentimentalen Inszenierung nicht. Er verzichtete auf ästhetisch überflüssiges Beiwerk, schauspielerische Kapricen und setzte ganz auf die drastische, tragische Geschichte. Das Fremde, hier die Figur von Val Xavier, verkörperte der estnische Darsteller Risto Kübar. Nübling entdeckte ihn in seiner Inszenierung von „Three Kingdoms“. Kübar erinnerte ein wenig an David Bowies "Ziggy Stardust", an einen Auf-die-Welt-Gefallenen, einen, der unbehelligt bleiben möchte. Doch alles an ihm reizte auf, seine Jacke aus Schlangenhaut, seine Bewegungen, seine Sprache (Ganze Passagen wurden in estnischer Sprache gesprochen und erzeugten eine musikalische Kryptografie der Sehnsüchte und Begierden.) und nicht zuletzt seine Liebe zu Lady Torrance. Er bildete schließlich die verletzliche Reibefläche für die Zündhölzer, mit denen am Ende der Scheiterhaufen entzündet werden sollte. 
 

Wiebke Puls spielte die Lady Torrance als eine harte Frau und selbstbewusste Frau, unter deren fester Schale Leidenschaften brodelten. Sie schwankte beieindruckend sichtbar zwischen Entsetzen, angesichts der Wahrheiten, die im Verlauf der Handlung sichtbar wurden, und dem Hass gegen den allgegenwärtigen Tod, personifiziert in der Figur des Ehemannes Jabe. Jochen Noch verlieh dieser Figur die Herzlosigkeit eines Mannes, der in seiner eigenen Selbstgerechtigkeit zu jedem Verbrechen in der Lage ist. Er spielte gleichsam die Rolle des örtlichen Sheriffs Talbott, eines ebenso fühllosen wie willigen Gehilfen von Jabe Torrance. Mit großer Wucht und extrem starker physischer Präsenz jagte Sylvana Krappatsch als Carol Cutrere wie ein kreischender Taifun immer wieder durch die Wohlanständigkeit des Ortes. Sie war der latente Störfaktor, zugleich das schlechte Gewissen der Stadt, die auch an ihr gefrevelt hatte.

Das Spiel war eine großartige Ensembleleistung. Dennoch soll eine Darstellerin unbedingt noch zu erwähnt werden: Annette Paulman. Ihren nicht unbeträchtlichen Nebenrollen als städtische Klatschbase Beulah Binnings und als Schwester Porter verdankte die Inszenierung die Leichtigkeit, die dieses düstere Drama, das nicht gänzlich ohne Längen ist,  erträglich machte. Ohne die Figuren zu denunzieren oder zu entschärfen, verlieh sie ihnen auf meisterhafte Weise komische Züge. Sie verhalf dem Publikum mehr als einmal zum Lachen, wenn dem Betrachter zum Heulen zumute war.

Obgleich Williams Dramen einladen zur heimeligen Betrachtung individueller und kleinbürgerlicher Konflikte, wählte Sebastian Nübling die Perspektive der philosophischen Draufsicht. Die Bühne von Eva-Maria Bauer unterstützte diesen Ansatz. Sie war gänzlich leer. Einzig ein Karussell, dass während der Handlung aufgebaut und vervollkommnet wurde, hing vom Bühnenboden herab. Nübling scheute den Symbolismus, der den Williams-Stücken stets innewohnt, nicht. Folglich schuf er, psychologische Spitzfindigkeiten weitestgehend vermeidend, Archetypen. Das Stück und auch seine eigene Inszenierung gaben ihm dabei Recht. Auch wenn das Stück über eine Katharsis nicht hinauskommt, so ist diese doch immerhin sehr gründlich.

Und noch etwas zeichnete diese Inszenierung aus. Sebastian Nübeling hielt sich an eine wesentliche Einsicht des Autors, der 1957 in einem Selbstinterview schrieb: „Für mich gibt es weder Bösewichte noch Helden, sondern nur richtige und falsche Wege, die der Mensch einschlägt – nicht aus freier Entscheidung, sondern aus Notwendigkeit oder unter dem Einfluss gewisser, ihm unverständlicher Faktoren seines eigenen Innern, seiner Lebensumstände und seine Herkunft.“ Nübling verführte bei allen Emotionen, die die Inszenierung freisetzte, den Betrachter nicht zu einem inneren Femegericht. Es ist, als müssten wir erkennen: Das und so ist die Welt. Können wir sie ändern? Selbst der Wankelmütigste würde doch immerhin zu dem Schluss kommen: Egal, ob ich sie ändern kann oder nicht, ich werde sie so nicht akzeptieren! Das ist doch ein guter Anfang. Und was ist falsch daran, wenn Theater, ohne moralinsauer zu werden, eine Moral transportiert? Immerhin wurde es dafür ursprünglich erfunden.

 
 
Wolf Banitzki


 

 


Orpheus steigt herab

von Tennessee Williams

Tim Erny, Sylvana Krappatsch, Angelika Krautzberger, Risto Kübar, Christian Löber, Lasse Myhr, Jochen Noch, Annette Paulmann, Wiebke Puls, Çigdem Teke


Regie: Sebastian Nübling

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