Marstall Der Komet nach Jean Paul
Wir sind alle Waisen
Während sich „Flegeljahre“ (Premiere am 22. März 2013 im Marstall) mit dem Satiriker und politisch engagierten Gestaltungskünstler Johann Paul Friedrich Richter, alias Jean Paul, beschäftigte und ein komödiantisches Feuerwerk entfesselte, war der Fokus in „Der Komet“ (Premiere am 23. März 2013 im Marstall) auf den Philosophen Jean Paul gerichtet. Jean Paul war zur Jahrhundertwende vom 18. zum 19. Jahrhundert im deutschen Bildungsbürgertum so bekannt und beliebt, dass man sogar die Neugeborenen in deutschen Landen häufig nach ihm benannte. Ohne Frage war er in Mode und ohne Frage wurde er seinerzeit nur partiell und auch nur von einer beschränkten Zahl an Zeitgenossen wirklich verstanden. Menschen, die einer Mode folgen, leben in einer Massenhysterie (Nietzsche). Ihnen kann, bei allem Respekt, nur bedingt eine Rezeptionsfähigkeit zugesprochen werden. Sie rezipieren ohnehin meist nur das Wiedergekäute, selbst wenn sie die Primärliteratur lesen oder vorgeben, diese gelesen zu haben.
Nach seinem Tod geriet Jean Paul schnell in Vergessenheit, obgleich er ein Kritiker des 19. und, wie leicht nachzuprüfen ist, auch des 20. Jahrhunderts blieb. Gegen die Romantik wandte es sich argumentativ wegen der Entfremdung von der Wirklichkeit durch maßlos übersteigerten Individualismus, der nur den Genuss des eigenen Ichs kennt. Das müsste uns bekannt vorkommen! Er wandte sich ebenso wortgewaltig gegen prätentiösen Ästhetizismus und „empfindsame Religiosität“. Um es mit Fromm zu sagen: er forderte den vitalen, nicht den nekrophilien Menschen ein, um eine Zukunft (vor allem für die Jugend) zu gestalten, denn auch krankhafte Todessehnsucht war Jean Pauls Thema. Um so verdienstvoller ist es, wenn das Residenztheater sich um diesen, immer noch überaus modernen Dichter in einem eigens für Jean Paul eingerichteten Festival bemühte!
Katrin Plötner (Regie) und Andreas Karlaganis (Dramaturgie) durchleuchteten das Werk Jean Pauls nach Gedanken, die über das irdische Dasein des Menschen hinausreichten und wurden fündig. In Texten wie „Traum über das All“, „Wichtige Nachrichten vom neuen Traumgeberorden“, „Unsichtbare Loge“ und anderen, stießen sie auf Jean Pauls Überlegungen zum Universum und zum Verhältnis des Menschen zu selbigem. Die große Frage danach, ob wir allein im All sind, und die letztlich auf banalste, weil von Angst getriebene Weise zur Religiosität geführt hatte, wird ebenfalls von Jean Paul gestellt, und beantwortet wird sie schließlich in der „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß Kein Gott sei“.
Michaela Steiger, Bibiana Beglau, Alfred Kleinheinz © Sarah Rubensdörffer |
Ausgangspunkt der Inszenierung von Katrin Plötner waren die 1977 von den Amerikanern mittels der Voyager Raumkapseln in den Weltraum geschickten vergoldeten Kupferplatten, die als Bild- und Tonträger dienten. Auf diese hatten Wissenschaftler versucht, ein umfassendes Bild von Erdplaneten und seinen Bewohnern, insbesondere vom Menschen, dem menschlichen Denken und seinem Schöpfertum zu bannen. Diese Inhalte wurden über ca. 25 Minuten von den vier Darstellern akustisch und gestisch gestaltet. Zu vernehmen waren Natur-, Tier- und Menschenlaute. Die Krönung war der menschliche Gesang in Form der Arie der Königin der Nacht aus Mozarts Zauberflöte, von Michaela Steiger angedeutet. Bibiana Beglau erspielte Skulpturen angefangen bei den antiken (Diskuswerfer) bis zu Rodin (Der Denker). Alfred Kleinheinz verwies auf die digitale Revolution und sprach in österreichisch gefärbtem Englisch die Grußbotschaft Kurt Waldheims (damaliger UNO-Chef) an die Außerirdischen. Robert Niemanns Morsezeichen erinnerten an die Anfänge weltumspannender Kommunikation und der Möglichkeiten für interstellare Verständigung.
Alle vier waren in dem 70minütigen dramatischen Essay Besatzungsmitglieder der „Voyager Komet“. Anneliese Neudeckers Bühne bestand aus einem weißen Podium, in dessen Hintergrundwand vier Türen eingelassen waren. Hinter diesen Türen schliefen die Astronauten in senkrecht stehenden Schlafsäcken. Über der Spielfläche hing eine Apparatur (aus unterschiedlichsten ausgemusterten Geräten), die das Gehirn des Raumschiffes vorstellte. Die Reise begann in freudiger Erregung, ganz in der optimistischen Beschreibung des Universums durch Jean Paul, der die Erde als ein Ufer begriff, von dem aus man in das universale Meer hinaustreten könnte. Das Meer fühlte sich gut an, wie er meinte. Doch je weiter die Astronauten in das unendliche Nichts vordrangen, um so quälender wurde die Frage nach dem Sinn des Seins und der Unternehmung. Schließlich, auf dem Gipfel höchster Verzweifelung, wurde Gott angerufen: Herr? Doch die Antwort war: Ihr seid alle Waisen! Damit hatte Jean Paul Gott ein Jahrhundert vor Nietzsche und ein halbes Jahrhundert vor dem Junghegelianer Ludwig Feuerbach abgeschafft.
Den Astronauten kam nach und nach aller Optimismus abhanden. Was Jean Paul andeutete, fand im „Mythos von Sisyphos“ von Albert Camus seine unbarmherzige Ausformulierung. Niemand kann einen Sinn des Daseins beweisen, es sei denn, er verleiht diesem einen. Jean Paul tat das mit großem Fleiß, in dem er das seinerzeitige Dasein schriftstellerisch eroberte und es so für nachfolgende Generationen kritisch festhielt. Katrin Plötners Inszenierung stellte vornehmlich Fragen. Und Fragen sind der Beginn aller Entwicklung. Das Bewusstmachen von Realität ist schon eine Frage an sich, denn selten stimmt der Mensch mit der Realität überein. So interpretiert, war der ästhetisch gelungene und mit klugen Gedanken angereicherte Abend wieder ein optimistischer. In jedem Fall machte er nachdenklich.
Dass Jean Paul ein Optimist war, belegt der Schluss, den er aus seiner Todesvision am 15. November 1790 zog: „Wichtigster Abend meines Lebens; denn ich empfand den Gedanken des Todes, dass es schlechterdings kein Unterschied ist, ob ich morgen oder in dreißig Jahren sterbe, dass alle Plane und alles mir davonschwindet und dass ich die armen Menschen lieben soll, die so bald mit ihrem bisschen Leben niedersinken.“ Diese Anschauung taugt allemal dafür, die Fragen nach Gott oder fremder Intelligenz zu beantworten. Selbst wenn es ein großer Segen für die Menschheit wäre, wenn endlich einmal Intelligenz auf die Erde kommen würde, könnte man ja vorab versuchen, mit sich selbst zu leben.
Wolf Banitzki
Der Komet
nach Jean Paul
Wichtige Nachrichten vom neuen Traumgeber-Orden und andere seltsame Begebenheiten nach Motiven von Jean Paul Bibiana Beglau, Michaela Steiger, Alfred Kleinheinz, Robert Niemann |