Marstall Der Sturm von William Shakespeare
Shakespeare verturnt
Ein Sturm lässt ein Schiff an den Gestaden einer unbekannten Mittelmeerinsel zerschellen. Die Passagiere sind Alonso, König von Neapel, sein Bruder Sebastian, sein Sohn Ferdinand, Antonio, Herzog von Mailand, und Gonzalo, ein alter Ratgeber des Königs. Der Königssohn Ferdinand ist bei dem Schiffbruch abhanden gekommen und die Überlebenden glauben, er sei tot. Herrscher der Insel ist Prospero, zwölf Jahre zuvor noch Herzog von Mailand. Er wurde von seinem Bruder Antonio mit Hilfe des Königs von Neapel gestürzt und gemeinsam mit seiner dreijährigen Tochter Miranda in einem Boot auf dem Meer ausgesetzt. Prospero gelangte auf die Insel und riss dort die Macht an sich, indem er sich den Luftgeist Ariel und die Missgeburt Caliban, halb Fisch, halb Mensch, dienstbar machte. Prospero inszenierte gemeinsam mit Ariel einen Sturm, der die o.g. Personen in sein Herrschaftsgebiet verschlug. Außer Gonzalo, der ihn nach seinem Sturz heimlich mit Büchern und Proviant versorgt hatte, sind sämtliche Personen seine Feinde.
Gemeinsam mit Ariel beschließt er die Männer zu bestrafen. Den König, der auf der Suche nach seinem Sohn auf der Insel herumirrt, versetzt er in einen tiefen Schlaf. Ein bunter Reigen von Mordkomplotten wird geschmiedet. Antonio überredet Sebastian, den Bruder des Königs, diesen zu ermorden. Er selbst erklärt sich bereit den alten Gonzalo zu beseitigen, damit der nicht Kunde von der Bluttat geben kann. Caliban, Sohn des Teufels und der Hexe Sykorax, ehemals Herrscher über die Insel, plant den Tod Prosperos. Ferdinand ist bei seinen Irrungen über die Insel Miranda, der Tochter Prosperos, begegnet und hat sich augenblicklich unsterblich in sie verliebt. Prospero prüft den jungen Mann hart, gibt dann aber seine Einstimmung zur Hochzeit. Der Inselherrscher verhindert mit der Hilfe Ariels alle Mordpläne, versammelt die Männer, die dem Wahnsinn nahe sind, und vergibt ihnen. König Alonso bereut und setzt Prospero wieder als Herzog von Mailand ein. Bevor sie alle gemeinsam zurück nach Mailand reisen, wird Caliban tüchtig verprügelt und Luftgeist Ariel in die Freiheit entlassen. In Neapel heiraten Ferdinand und Miranda. So der Inhalt des vermutlich letzten Stückes von William Shakespeare aus dem Jahr 1611. Darin finden sich erstaunliche Passagen, wie der Monolog Gonzalos über einen glücklichen Staat, in dem es weder Besitz noch Arbeit, weder Macht noch Politik gibt.
Dieses Stück legt den Verdacht nahe, dass Shakespeare sich damit, wie Prospero von der Insel (Die Welt, eine Bühne – die Bühne, eine Welt.), vom Theater, von der Bühne verabschieden wollte. Zudem kann durchaus unterstellt werden, dass er in Prospero seiner eigenen Person ein letztes Denkmal setzen wollte.
Jens Atzorn, René Dumont, Arthur Klemt, Miguel Abrantes Ostrowski © Andreas Pohlmann |
Den Monolog Gonzalos beließ Gísli Örn Garðarsson immerhin im Stück, ansonsten wich er weit von der Vorlage Shakespeares ab. Der Regisseur folgte seiner eigenen Prämisse, die da hieß: Prospero ist einzig seinem Rachegedanken verpflichtet. Diese Lust am Strafen und Töten lebte Prospero, ein donnernder Manfred Zapatka, gemeinsam mit seinem Sklaven Ariel, entfesselt von Gunther Eckes gestaltet, in dem Gefängnis gnadenlos aus. Die Bühne von Börkur Jònsson bestand aus Metallkäfigen, die selbst den Zuschauerraum umschlossen. Der transparente Raum bot drei Spielebenen. Im Untergeschoss befand sich die Welt des Wassers und des Schlamms, wohin Caliban verbannt war. Guntram Brattia verlieh dem Zwitterwesen animalische Züge. Darüber war die Welt Prosperos und der Menschen angesiedet und auf dem Dach herrschte Ariel im Namen Prosperos. Als Prospero zu Beginn davon sprach, dass er „die Zelle“ betrete, waren Assoziationen zum Gefängnis von Guantanamo unausweichlich, denn die gestrandeten Männer waren an den Decken aufgehängt und wurden gefoltert. Sie wurden geschlagen, mit Wasser übergossen oder man drückte ihnen die Augen ein. Viel Blut floss. (Das Stück wird für Besucher ab 16 Jahre empfohlen.) Da blieb dann schon mal einer auf der Strecke. Den Leichnam entsorgte man ins Untergeschoss.
Friederike Ott hielt es als Miranda nur sehr selten auf dem Boden und es drängte sich der Verdacht auf, die Evolution wäre hier auf dem Rückzug, denn sehr oft flüchteten sich die Darsteller auf die Streben des Gitters, vielleicht auf die Bäume. Man musste den physischen Anstrengungen der Darsteller unbedingt Respekt zollen, doch viel mimisches Spiel oder eine ausgewogene und akzentuierte Sprachgestaltung war nicht möglich. Die Dunkelheit (Licht Björn Helgason) machte zu Beginn sogar die Unterscheidung der Personen schwierig. Der liebende Ferdinand (Franz Pätzold) war neben dem nicht kletternden Manfred Zapatka, der als Prospero den größten Handlungs- und Sprechpart zu leisten hatte, noch am leichtesten auszumachen, denn er trug Weiß und war schön anzuschauen, als er am Bungeeseil durch den Bühnenboden flog. René Dumont konnte als Alonso weniger durch ausgefeilte Rollengestaltung punkten, sondern war leichter auszumachen, weil er als alter Mann nicht mehr so behände kletterte. Ansonsten agierte der Rest der Turnerriege ausgesprochen agil, gelegentlich auch halsbrecherisch. Höhepunkt der Show war ein Kampf zwischen Prospero, der dann stellvertretend durch Ariel fortgeführt wurde, Antonio (Jens Atzorn) und und Sebastian (Arthur Klemt). Martial Art und Star Wars wurde geboten, von Kill Bill bis zu den Jedirittern. Am Ende waren alle tot. Das war schön anzuschauen, hatte aber mit Shakespeare nichts mehr zu tun.
Seit Gísli Örn Garðarsson 2012 „Die Verwandlung“ ins Cuvilliéstheater brachte, weiß der Münchner Theaterbesucher, dass der Regisseur, einstmals selbst Turner, sehr Körper betonendes und artistisches Theater macht. In „Die Verwandlung“ erschloss sich der Sinn auf den ersten Blick, denn Gregor Samsa durchquerte sein Zimmer als Käfer auch schon mal an der Decke. In „Der Sturm“ ist die Entschlüsselung schon schwieriger und es bleibt nur das Spekulieren über die Wahl der Ästhetik. Die erste Spekulation ist, wie bereits erwähnt, die Vorstellung von Gefängniskäfigen. Die Begrenzung kann auch bedeuten, dass hier die ganze Welt eingeschlossen ist, oder zumindest die ganze Welt des Alleinherrschers Prospero, der man nicht entrinnen kann. Es kann aber auch bedeuten, dass der Darsteller eine völlig andere Wirkung erzielt, wenn man ihm den Boden nimmt. Vermutlich ist alles zutreffend und alles könnte auch einen Sinn ergeben, wenn man einmal davon absieht, dass die Handlung allein auf totale Vernichtung und nicht auf eine humanistische Auferstehung hinaus läuft. Da hatte man Shakespeare doch zu viel Gewalt angetan und das Stück in sein Gegenteil verkehrt. Ist es noch legitim, wenn man die Botschaft eines Stückes in sein Gegenteil verkehrt, um mehr Möglichkeiten für Action auf der Bühne zu erwirtschaften? In der Werbung des Theaters heißt es: Gísli Örn Garðarsson (…) sucht in den unruhigen Träumen des "Sturm" den Albtraum absoluter Macht. Kann die physische Tyrannei überhaupt Ausdruck von absoluter Macht sein. Gewiss nicht, denn absolute Macht, wie es sie heute schon gibt, ist lautlos und weitestgehend unsichtbar und sie wird von den Opfern zumindest billigend, wenn nicht sogar liebend in Kauf genommen. Aber das ließe sich schlecht „verturnen“.
Wolf Banitzki
Der Sturm
von William Shakespeare
Manfred Zapatka, Jens Atzorn, René Dumont, Arthur Klemt, Franz Pätzold, Guntram Brattia, Gunther Eckes, Miguel Abrantes Ostrowski, Friederike Ott
Regie: Gísli Örn Garđarsson