Urteile

Marstall Urteile - Ein Dokumentarisches Theaterprojekt von Christine Umpfenbach


 

 


Äußerung einer Ansicht

Von den unsichtbaren, legitimierten Schlachtfeldern der Gesellschaft erzählt das dokumentarische Theaterprojekt von Christine Umpfenbach. Die Opfer des NSU in München stehen im Mittelpunkt. Wobei ursächlich die Mordopfer, tatsächlich aber die überlebenden und einem Gesellschaftsprozess freigegebenen Menschen eine Stimme erhielten.  >Am 29. August 2001 wurde Habil K. in seinem Obst- und Gemüseladen in München-Ramersdorf erschossen. Als Tatmotiv galt „organisierte Kriminalität“. ... Am 15. Juni 2005 wurde Theodoros B. in seinem Geschäft in München-Westend erschossen. Die Zeitung schrieb: „Eiskalt hingerichtet – das siebente Opfer. Türken-Mafia schlug wieder zu.“  Die betroffenen Familien wurden nach den Morden von Sicherheitsbehörden, Medien, aber auch von ihrem unmittelbaren Umfeld (sicherlich in Folge dieser öffentlichen Aufmerksamkeit, Anmerk CMM) zehn Jahre lang zu Unrecht verdächtigt. Statt trauern zu dürfen, wurden sie Ermittlungen und Anschuldigungen ausgesetzt.<, so die Ankündigung im Programmheft.

Über der Bühne im Marstall hing verkehrt ein Baum. Er wurzelte in der Luft, nährte sich aus der Luft der Verdächtigungen, der Luft der Vorurteile, der Luft unterschiedlicher Moralvorstellungen und der Luft einer verdrängten Vergangenheit. Einer Vergangenheit, die gänzlich zu tilgen nie gelingen kann und die nach wie vor lebende Zellen hervorbringt. Weniger extreme und extreme wie NSU beispielsweise, die die Schwächen der etablierten Staatsorgane deutlich machen. Und um diese Einflüsse zu kontrollieren, sowie Ordnung und Sicherheitswahn aufrechtzuerhalten, demonstrativ, saßen zwei Polizeiuniformen im Publikum. Die Krone des Baumes befand sich über dem Boden und es konnten die in den Himmel weisenden Wurzeln auch für die heimatlos Entwurzelten stehen, die sich gedanklich dem Boden über den sie gehen verbunden fühlen, ihn achten und ihm dennoch nicht entstammen. Dumpfe Bässe sollten die Stimmung in die Bedrückung leiten, jene dunkle Gemütslage die man dem Leid zuschreibt.

In Leuchtschrift erschienen die Daten der Morde. Gunther Eckes trat vor das Publikum und trug die Äußerungen von Theodoros Bruder vor, erzählte die Geschichte der Brüder und ihres Alltags. Paul Wolff-Plottegg ergänzte mit Äußerungen zu Habils Ermordung und spannte damit den Bogen zwischen den Familien und dem sich ähnelnden Geschehen um den Verlust eines geliebten Menschen. Besonders feinfühlig verkörperte Demet Gül die Frau von Habil, deren Tocher, sowie die Freundin der Frau. Vor allem Sprachlosigkeit über das Geschehen wurde von ihr sichtbar dargestellt, verbreitete Betroffenheit. Christine Umpfenbach hatte über zwei Jahre recherchiert, die Familienmitglieder befragt und die Äußerungen von Beteiligten gesammelt. Eine überaus einnehmende Atmosphäre entstand, welche auch durch die Wiedergabe der Recherchen der befragten, teilweise investigativ bemühten, Journalisten und einiger Polizeimitarbeiter nicht gebrochen wurde. Sichtbar wurde aus der Aufführung noch ein anderes Bild. Das Bild einer Tatort-Gesellschaft, die mit Tatort den Abend verbringt, Tatort träumt und damit in den Tag schreitet, in seichter Auseinandersetzung verharrt, den Mörder schon fünf Minuten nach Beginn erkannt hat und die eine ungemein kleine Welt der Klischees nahezu perfekt bedient. Türkenmafia, DNA-Test, Drogenhandel ...

     
 

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Respekt und Verständnis auf allen Seiten tut Not. Die Wanderbewegung und die daraus resultierende Überfremdung lässt die Grenzen von Kulturen  und Traditionen verschwimmen, so, wie die zunehmende Enge des Lebensraums einen Herd der Aggression heizt. Selbstbehauptung und Abgrenzung sind also die Vorgänge, welche jeden Menschen permanent unter Druck setzen, egal ob es sich um einen der ca. 250.000 echten Münchner, einen Bayern oder einen Enkel der Zuwanderergeneration handelt. Kein Wunder also, dass Überforderung die krassesten Blüten treibt. Und es war immer schon „der andere“ auf den man mit dem Finger zeigte, an dem man seine Kräfte maß. Ob Bildung dieses ursprünglich tierische Verhalten zu überbrücken vermag, würde sich erst in einigen Generationen zeigen. Es bleibt also genug Arbeit für Alle.

Das realitätsnahe Theaterprojekt verlieh Menschen eine Stimme, welche in das Räderwerk eines Staatsapparates gelangt waren. Die Apparate laufen, verteilen ihre Stempel ... stigmatisieren. Weltweit. So oder so. Die Vorstellung von persönlicher Gefühlslage in den Situationen von Leid, Trauer und Unverständnis, Misstrauen ergab ausreichend Gesprächsstoff für Psychologen und für an Psychologie Interessierte. Die Wurzeln in der Luft, an den Seelen der anderen, nähren sie sich aus dem Unsichtbaren. Auch das ist Realität. Für Theater stand die Metapher des umgedrehten Baumes.

 

C.M.Meier

 


Urteile

von Christine Umpfenbach/Azar Mortazavi

Ein Dokumentarisches Theaterprojekt über die Opfer des NSU in München


Gunther Eckes, Demet Gül, Paul Wolff-Plottegg

Regie: Christine Umpfenbach