Phosphoros

Marstall UA Phosphoros von Nis-Momme Stockmann


 

 

Große Dinge kündigen sich an!

Ein Sturm zieht auf, ein Jahrhundertsturm, und der meteorologische Dienst gibt alle relevanten Daten durch, um auf das Ereignis vorzubereiten. Derweil gehen die Dinge ihren Lauf, nicht weniger chaotisch, nicht weniger Unheil verheißend. Ein jeder kämpft mit dem Schicksal und dabei doch nur mit sich selbst. Sie alle sind Kinder des Phosphoros, der licht- und verheißungsvollen Venus als Morgenstern, wie auch des Hesperos. Unter diesem Namen firmierte die Venus in der Antike als Abendstern, als Symbol für Schatten, Finsternis und Verzweiflung. Sicher ist: Großes bahnt sich an. Doch was es sein könnte, vermag niemand zu sagen.

Im Zentrum der verzweifelten menschlichen Suche nach Glück, Erkenntnis und Liebe steht ein echter „Faust“, der Physiker Lew Katz, der mit ehrlichem Bemühen zu verstehen sucht, was die Welt im Innern zusammenhält, und der seine Studenten zu ähnlichen Überlegungen verleiten möchte. Glücklich ist er nicht, doch liegt das weniger daran, dass er die letzten Fragen nicht beantworten kann. Im Geiste ein Titan, ist er doch auch nur ein erbärmliches Menschlein, ein Hypochonder, ein bornierter Egomane, der das Leben und somit auch seine Frau aus den Augen verloren hat und sich mit fragwürdigen Präparationen von Schweineherzen beschäftigt.

Anna Katz weiß längst, dass ihr Mann keinen Krebs hat, hält die Testergebnisse aber zurück und schafft sich einen Hund an, um die Leere um sich herum zu füllen. Darüber hinaus hatte sie die Hoffnung, dass die gemeinsame Namensgebung für den Hund sie wieder näher zusammenbringen könnte. Katz hat seit vier Wochen keine Notiz von der Anwesenheit des Tieres genommen. Anna trifft in ihrer verzweifelten Situation auf Basil, einen Kontrabassisten, der ein Konzert im „Schwarzen Bären“ geben soll, und verguckt sich in ihn, in den Künstler. Basil wird derweil vom Rezeptionisten des Hotels tyrannisiert, einem Mann, der nicht verbergen kann, dass er ebenfalls ein talentierter Musiker ist. Allerding hat er sich dem (tödlichen) Seins-Status des Künstlers verweigert und ist stattdessen das Talent geblieben und Rezeptionist geworden.

Basil wartet indessen auf seinen Kontrabass, der von der Freundin Eva, in der Öffentlichkeit nur die Assistentin genannt, per Zug zum Auftrittsort geschafft wird. Doch Eva und die Brezelverkäuferin Marlene werfen den Kontrabass gemeinsam aus dem Zug. Marlene ist ein zutiefst pessimistischer Mensch. Ablenkung von ihrem tristen Dasein findet sie in den Seminaren von Lew Katz. Ansonsten wehrt sie sich lange Zeit standhaft gegen die Gutmenschlichkeit ihres zugbegleitenden Kollegen Jörg. Als sie ihm endlich vertraut, erweist sich auch dieses Gefühl als eine Falle. Nebenher ziehen mehr oder weniger begabte Studenten durch die Szenen; ein Schreibkursleiter raspelt sein pseudoaufklärerisches und esoterisches Süßholz; diverse mit Macken behaftete Wissenschaftler, eine Psychiaterin und ein hyperventilierender Hund ziehen ihre Kreise wie Planeten, die in immer wieder wechselnde Konjunktionen zueinander geraten.

  Phosphoros  
 

Artur Klemt, Lukas Turtur, Thomas Gräßle, Genija Rykova, Juliane Köhler, Katharina Pichler, Franz Pätzold

© Andreas Pohlmann

 

Regisseurin Anne Lenk, sie hatte sich nachdrücklich mit der Regie von „Du hast gewackelt. Requiem für ein liebes Kind“ von Franz Xaver-Kroetz im Cuvilliéstheater empfohlen, inszenierte in spartanischer Ausstattung. Judith Oswalds Bühnenbild bestand lediglich aus einem gewaltigen Scheinwerfer, der in der Mitte des leeren Bühnenraums hing und nach Bedarf ins Schaukeln gebracht wurde. Die Darsteller saßen, wenn Professor Lew Katz, bestechend-prägnant in seinen physikalischen Ausführungen und verschroben-larmoyant in seinem Weltschmerz gespielt von Johannes Zirner, in der ersten Reihe. Ebenso wenn Franz Pätzold in Verkündigungspose den Literaturguru gab. In diesen Situationen wurde das Licht im Zuschauerraum hochgefahren und die Ansprachen richteten sich ebenso direkt ans Publikum.

Die anderen Szenen waren stark „verschnitten“, manchmal liefen drei und mehr parallel ab und Stichwörter ließen die Aufmerksamkeit des Betrachters hin- und herspringen wie Ping-Pong-Bälle. Basil, von Lukas Turtur mit einer wunderbaren Fragilität ausgestattet, erlebte seinen eigenen Untergang am Wesen des Rezeptionisten, mit mephistophelischen Anklängen von Thomas Gräßle gestaltet. Genija Rykovas Marlene holperte in einer geradezu schmerzhaften Kantigkeit durch die Geschehnisse und Juliane Köhler gab eine wild entschlossene Eva, Freundin/Assistentin Basils, die ohne zu zögern den Mord an dem (sehr wertvollen) Kontrabass beging. Arthur Klemts Jörg war für lange Zeit der Gegenentwurf zum Chaos. Breitärschig in Gestalt und Geist propagierte er lange Zeit die Werte, die durchaus noch zu finden seien in der Welt, die er am Ende aber selbst verriet. So durfte er zum Schluss auch noch als hyperventilierender Hund sterben.

Es war ein gewaltiger Brocken dramatischer Text, intelligent, verwirrend, wissend, der nur ein Ziel hatte, die Fragmentierung der Gesellschaft durch Individualisierung bis ins Detail zu beschreiben. Es ist genau der Zustand, der sich irgendwann in gewaltigen gesellschaftlichen Unwettern entladen wird. Aber auch der Moment der tiefen menschlichen Sehnsucht nach Gemeinsamkeit blieb nicht ausgespart. Der Chor, es war tatsächlich ein Chor, wie man ihn aus den antiken Dramen kennt, formierte sich mehrmals zum gemeinsamen Gesang, der jedoch auch nur aus einzelnen Buchstaben, also physikalischen Variablen, bestand. Das war berührend und komisch zugleich und klang wie Kurt Schwitters „Ursonate“.

Die dreistündige Vorstellung war Highspeed-Theater mit darstellerischen Kabinettstückchen und erstaunlichen szenischen Lösungen, die allerdings dem intellektuellen Verständnis der Texte nie im Weg standen. Das war, bei Kenntnis des manchmal monströs anmutenden Textes, eine gewaltige Leistung. Eine ebenso große Leistung war das Spiel sämtlicher Darsteller, die nichts hatten als ihren eigenen Gestus, den Text und den Gegenüber. Längen gab es keine, zumindest für die Zuschauer, die den Ausführungen folgen konnten. Intellektuell und emotional wurde das Publikum unbedingt gefordert. Manchmal ist Rezeption eben auch harte Arbeit.

Autor Nis-Momme Stockmann tat im Interview, abgedruckt im Programmheft, kund und zu wissen, dass er nicht „prophetisch herüber kommen möchte“. Warum eigentlich nicht? Seine dramatische Analyse, die nebenher noch großen Spaß bereitete, jedoch weit mehr als nur ein Spaß war, autorisiert ihn ohne weiteres dazu. Mit wie vielen falschen (auch schwachsinnigen) Propheten haben wir uns täglich auseinander zu setzen. Da ist mir einer, der sich einer zwingenden Logik und eines profunden Wissens darüber, worüber er spricht, befleißigt, gerade recht. Verwunderlich war eigentlich nur, dass neben dem „Schiff des Theseus“ nicht auch das Paradoxon von Zenon zum Wettlauf zwischen „Achilles und der Schildkröte“ bemüht wurde, wenn es schon um das Raum-Zeit-Kontinuum ging. Das kann auch Verzweiflung erzeugen.

 

Wolf Banitzki

 


UA Phosphoros
von Nis-Momme Stockmann

Johannes Zirner, Juliane Köhler, Katrin Röver, Genija Rykova, Franz Pätzold, Lukas Turtur, Thomas Gräßle, Katharina Pichler, Arthur Klemt

Regie: Anne Lenk