Marstall  Kongress der Autodidakten

Wissenschaftswirrwarr

Immer mehr Bildungsangebote erobern die Theater. Auch im Marstall wird diese Tendenz inzwischen überdeutlich. Nach dem Qualitätsquatsch von Jürgen Kuttner, wo in einem weltanschaulichen Diskurs die meisten Welträtsel so gut wie gelöst wurden, schickte sich der „Kongress der Autodidakten“ mit einem titanischen Wissenschaftswirrwarr an, die Resträtsel abzuarbeiten. Ausgehend von dem philosophischen Satz „Im Kleinen ist alles enthalten!“, trafen sich Wissenschaftler, die vornehmlich im Mikrokosmos unterwegs sind. Der Kongress war insofern sehr bedeutsam, weil es sich bei den Teilnehmern um Autodidakten handelte, also um Geister, die nicht in den engen Grenzen anerkannter ordentlicher Wissensdisziplinen gebildet wurden, sondern die sich in den un- oder außerordentlichen Bereichen des Denkens bewegen. Das erklärte Ziel des Kongresses war ein gewaltiger Wissensknödel, der am Ende in ein erhellendes, weithin und für jedermann sichtbares Licht transformiert werden sollte. (So viel vorab: Das fand statt.)

Organisator des Kongresses war Siegfried Sigor (René Dumont), ein feiner und gepflegter Mensch, ein Mann der leisen Töne mit vorzüglichen Manieren. Sein Fachgebiet: Ameisen. Zudem forscht er auf dem Gebiet „soziale Insekten“. Ort der Veranstaltung war die geräumige Wohnung (Inneneinrichtung von Ralf Käselau – von Beruf Bühnenbildner) von Stefan Kindschi (Jürg Kienberger), seines Zeichens Entomoakustiker, eine genialische Erscheinung, wie man an der Frisur und den Bärentazenhausschuhen unschwer erkennen konnte. Er war auf der Suche nach von Borkenkäfern erzeugten Schallwellen, um damit Tinniti (Plural von Tinnitus) zu heilen. Da die Frequenzhöhe der Schallwellen von Borkenkäfern abhängig ist von der Größe der Bäume, hatte Kindschi seine Fühler weit hinaus in die Welt strecken müssen. Echte Altusstimmen sind beispielsweise nur auf Grönland zu finden, weil die Fichten dort im Durchschnitt nur ca. 70 Zentimeter groß werden. Desweiteren nahm Henry Buchsboom (Lukas Turtur) teil. In der Beschäftigung mit den Bienen wurde er der unerschütterlichen und gesicherten Erkenntnis teilhaftig, dass die geflügelten Insekten in ihrem gesellschaftlichen Plan absolut vollkommen sind. Wie viele andere große Geister leidet auch er unter seinem Wissen. Im Besitz des Wissens zu sein, ist ein Fluch, wenn sich kein Weg findet, dieses Wissen in das Bewusstsein der Menschheit zu bringen. Buchsboom nutzte aggressiv jede Gelegenheit, sein Wissen an den Mann oder die Frau zu bringen, was auch schon mal an Penetration grenzte.


  Kongress der Autodidakten  
 

Jürg Kienberger (Stefan Kindschi), Katrin Röver (Cordula Ahrends), René Dumont (Siegfried Sigor), Lukas Turtur (Henry Buchsboom)

© Thomas Aurin

 

Auch das schöne Geschlecht war vertreten. Cordula Ahrends (Katrin Röver) war dezent und vorteilhaft gekleidet, hatte eine gefällige Frisur und Jodelstimme und vertrat sehr würdevoll die Spezialisten für das Anthropozän. Für die unkundigen unter den Lesern und um die Mühen des Googelns zu ersparen, dieser Begriff steht für die Benennung einer geochronologischen irdischen Epoche, nämlich die der Anwesenheit des Menschen und den daraus resultierenden unübersehbaren Folgen. Grundsätzlich vertrat Frau Ahrends die Ansicht, dass das Zeitalter, gemessen am gesamten Erdalter,  kurz, sehr kurz ist. Ein wenig getrübt wurde die heitere Aufbruchstimmung durch die Anwesenheit Jean-Luc Perracs. Jean-Luc Perrac (Thomas Gräßle), ist Prothetiker mit einem düster-poetischen Verhältnis zu Mollusken (Weichtiere), einem russischen Akzent und einer seltsamen Inkontinenz, die zu milchweißen Spuren führte. Matthäus Lüftner (Matthias Loibner), ein recht schweigsamer Zeitgenosse, forscht schon länger an der Umwandlung von Ideen und Erkenntnissen in Schallwellen. Sein Beitrag gipfelte in dem Angebot, dass jeder Teilnehmer am Ende der Veranstaltung sein ureigenes Sonogramm ausgedruckt bekäme. (Hat aber nicht stattgefunden!)

Die anwesenden Autodidakten gerieten geradezu in Verzückung, als Siegfried Sigor vollmundig ankündigte, dass er Manfred Zapatka als Gastredner gewinnen konnte. Dass der jedoch zum vereinbarten Zeitpunkt nicht kam, war wohl der für den Ablauf verantwortlichen Corinna von Rad (von Beruf Regisseurin) zu danken oder besser nicht zu danken, denn sie hatte das Protokoll der Veranstaltung offensichtlich nicht im Griff. Dem anwesenden Publikum gereichte das nicht unbedingt zum Nachteil, denn Manfred Zapatka hielt seinen Vortrag. Er kam tatsächlich in eigener Person, nicht wie die anderen Teilnehmer, die Stellvertreter schickten (Siehe Klammern!). Zapatka kam zu früh, vor allen anderen Teilnehmern, und war bereits wieder weg, als Siegfried Sigor mit seinem eigenen Rolli-Rednerpodest eintraf. In seinem Vortrag sprach Manfred Zapatka über Anfang und Ende, Sterblichkeit und Unsterblichkeit, aber auch über gefiederte und nicht gefiederte Seelen. Leider musste das Publikum erfahren, dass der großartige Manfred Zapatka auch nicht mehr ist, was er einmal war, denn dem kundigen Publikum entging nicht, dass sein Beitrag ein „copy & paste“-Produkt war. Er hatte sich auf schamlose Weise am „Phaidon“ von Platon vergriffen. Nun ja, wie sagte schon Brecht, wenn schon klauen, dann bei den Besten. Zu denen zählten neben etlichen Geistesgrößen, die aufzuzählen, hier zu weit führen würde, beispielweise auch Rudolf Steiner und Claude Lévi-Strauss.

Es mangelte der ganzen Veranstaltung ein wenig an Professionalität. Zum Beispiel wurde Henry Buchsboom bei der Verteilung von Snacks übergangen, was eine kurzzeitige Depression bei dem lebensbejahenden Mann auslöste. Zum echten Eklat geriet allerdings der Verzehr von Borkenkäferlarven, die sich als Halluzinogene erwiesen. Es kam zu peinlichem Verhalten bis hin zur teilweisen Selbstentblößungen. Strukturell war die Veranstaltung eher eine Panne und so gingen einige wichtige Ideen mehr oder weniger unter. Aussagen wie: „Die Welt hat ohne Menschen begonnen, und sie wird ohne ihn enden“, hätten durchaus breiter und tiefer diskutiert werden können. Doch allen Beteiligten soll und muss bescheinigt werden, nach bestem Wissen und Gewissen und sehr selbstlos für den Fortbestand des Lebens und der Welt eingetreten zu sein. Darüber hinaus bewiesen die Dame und die Herren, dass sie allesamt  sehr schön singen können, was ein deutliches Indiz dafür ist, dass man es mit überaus positiven und liebevollen Menschen zu tun hatte. Ausgenommen vielleicht Jean-Luc Perrac (Thomas Gräßle). Der verschwand auf wunderliche Weise, einen großen Milchfleck zurücklassend.

Und noch etwas konnte aus dem Kongress mitgenommen werden: Wahrer Idealismus ist unsterblich, auch wenn er manchmal seltsame Formen annimmt. Darum sei in die Welt hinausgerufen: Autodidakten aller Länder vereinigt Euch! Ihr seid die wahre Hoffnung!

Wolf Banitzki


Kongress der Autodidakten

Stück mit Musik

René Dumont, Thomas Gräßle, Matthias Loibner, Jürg Kienberger, Lukas Turtur, Katrin Röver, Manfred Zapatka

Regie: Corinna von Rad