Marstall In einem Jahr mit 13 Monden von Rainer Werner Fassbinder


 

Kein Entkommen

Elvira Weishaupt heißt eigentlich Erwin. Er ist in einem kirchlichen Waisenhaus aufgewachsen, in dem er vornehmlich lernte, Menschen zu geben, was sie sich wünschten. Bei den Ordensschwestern war es warmherzige Liebe. Und so lernte er das Lügen, was ihn jedoch einsam und traurig machte, was allerdings niemand bemerkte. Eine kurze Zeit gab es die Hoffnung, dass er in eine Adoptivfamilie kommen würde. Doch eine Adoption erforderte die Zustimmung von Vater und Mutter. Da der Vater, der im Krieg war, gar nichts von der Existenz Erwins wusste, verweigerte zuallererst die Mutter ihre Zustimmung, um nicht aufzufliegen. So blieb Erwin bei den Nonnen. Der zweite Schritt ins Arbeitsleben brachte ihn mit Anton Saitz zusammen, einem Mann, der als Kind das Konzentrationslager überlebt hatte und der den unbändigen Wunsch entwickelt hatte, reich, sehr reich zu werden. Man begann mit Fleisch, denn Erwin, der eigentlich Goldschmied werden wollte, hatte als ersten Schritt den Beruf des Schlachters erlernt. Zu Geld gekommen, kaufte sich Anton Saitz in ein Bordell ein, das er nach den Regeln eines KZ´s organisierte und das ihm noch mehr Geld einbrachte. Später kaufte er im Frankfurter Westend Immobilien, ließ sie abreißen und errichtete Hochhäuser.

Erwin heiratete Irene, eine Lehrerin, und zeugt mit ihr Marie-Anne. Doch ein Familienleben konnte er nicht führen. Anton Saitz hatte Erwin, der sich nach nichts mehr als nach Liebe sehnte, eines Tages geflüstert, dass er ihn liebe. Erwin flog nach Casablanca und ließ sich umoperieren. Schwul war er nicht, eine Frau wurde er auch nicht und Saitz sah er nicht wieder. Stattdessen ging er anschaffen und ernährte Christoph, einen gescheiterten Schauspieler, der dank Erwin wieder in die Gesellschaft zurückfand und Anlageberater wurde. Doch Christophs Liebe zu Elvira, wenn es denn eine war, starb und der Film von Rainer Werner Fassbinder aus dem Jahr 1978 beginnt mit dem endgültigen Fortgang.

Trost findet Elvira temporär bei der roten Zora, einer Prostituierten. Doch Elvira hat längst jeglichen Halt verloren und sie sieht die einzige Chance, das Leben weiterzuführen in einer neuerlichen Begegnung mit der großen Liebe Saitz. Bei dem muss sie auch Abbitte leisten, denn in einem Interview hat sie auch über Saitz, den die meisten Menschen für „ein skrupelloses Kapitalistenschwein“ halten, geplaudert. Die Begegnung führt lediglich zu der Erkenntnis, dass Saitz Geständnis, Erwin zu lieben, völlig bedeutungslos gewesen war. Elvira sucht verzweifelt den Weg zurück zu Erwin, der sie einmal war und zu seiner Familie, die er nie gelebt hat. Doch es ist zu spät. Für Erwin gibt es aus diesem gescheiterten Leben kein Entkommen mehr.

  in einem Jahr mit 13 Monden  
 

Thomas Loibl (Elvira Weishaupt)

© Konrad Fersterer

 

Im Film geht es um Liebe und Tod. In Jahren mit besonderen Mondkonstellationen treten Depressionen bei Menschen mit starken Beschädigungen besonders heftig auf. 1978 war so ein Jahr. Selbstmorde waren darum an der Tagesordnung. Es ging aber auch um besondere politische Konstellationen, um den Ausbruch eines neoliberalen Booms, bei dem mit Konkursen noch am besten Kasse gemacht wurde. Fassbinder ließ sich dabei von einer Person besonders inspirieren, die aufgrund ihrer Stellung in der Gesellschaft weitestgehend unantastbar war. Gemeint ist Ignatz Bubis (geb. 1927), der Ende 1944 in das Zwangsarbeitslager bei Tschenstochau (poln. Częstochowa) verschleppt wurde. Der spätere Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland begann seine kaufmännische Karriere im Schwarzmarkthandel im Ostsektor und musste fliehen. In Frankfurt a.M. kaufte Bubis Immobilien, ließ sie bis zum Abriss leer stehen, um dann als Bauinvestor aufzutreten. In dem Theaterstück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ spielte  Fassbinder auf Bubis an. Bubis protestierte 1985 gegen eine Aufführung, die er „subventionierten Antisemitismus“ nannte.

Aureliusz Śmigiel setzte das Filmprotokoll von Juliane Lorenz, das beinahe identisch war mit dem Filmtext im Marstall als Theaterinszenierung um, wobei die politische Seite der Geschichte stark in den Hintergrund trat. Śmigiel hatte die Rolle der Elvira mit Thomas Loibl besetzt, womit er nichts falsch machen konnte. Loibl gehört ganz sicher zu den verlässlichsten Schauspielern, selbst bei kompliziertesten psychologischen Darstellungen. Philip Dechamps gab einen bissigen, herzlosen und brutalen Christoph und einen Selbstmörder, der Schopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung“ (1819 erschienen) zitierte. Im Film wird das Buch in der Hand der Ordensschwester Gudrun sichtbar. Auf der großflächigen Marstallbühne (Bühne Martin Eidenberger), lediglich mit ein paar Matratzen und Kleidungsstücken belegt, gab Götz Schulte unter einem großen Lichtkreuz diese Schwester, aber auch die Figur des mit Orangen golfenden Immobilienhais Anton Saitz. Nora Buzalka verkörperte ihrerseits sowohl eine im bürgerlichen Verständnis respektable Studienrätin Irene als auch eine spastisch verbogene Smolik, die Sekretärin von Saitz. Mathilde Bundschuh gelang es nur unzulänglich, deutliche Grenzen zwischen der von ihr dargestellten roten Zora und der Tochter  Marie-Anne zu ziehen. Auch Marcel Heupermans komische Seelen-Frieda und sein Arbeitsloser differierten nicht wirklich deutlich.

Damit ist ein wichtiges Manko der Inszenierung benannt, denn ein stringenter Erzählstrang wie im Film konnte in der Bühnenfassung nur schwer ausgemacht werden, obgleich der Text und die Szenenfolge beinahe identisch waren. Ohne Kenntnis des Films hatte der Zuschauer Orientierungsprobleme. Aureliusz Śmigiel ging es zweifellos weniger um gesellschaftlich-politische Hintergründe und mehr um die inneren Kämpfe, die die Figuren, insbesondere Elvira Weishaupt, mit sich und mit anderen auszutragen hatten und die für den Protagonisten tragisch ausgehen musste. Im Film erschloss sich diese Tragik problemlos, im Theaterstück war sie mehr oder weniger behauptet. Es waren sehenswerte darstellerische Leistungen am Premierenabend zu erleben und faszinierende, z.T. philosophische Texte zu hören. Allerdings verschmolzen die szenischen Einrichtungen und Einfälle und die darstellerischen Abläufe und Haltungen nicht zu einem zwingenden Gesamtkunstwerk wie es Fassbinder im Film gelang. Einiges blieb unentschlüsselbar. Fassbinder folgte nicht selten seinen radikalen und spontanen Eingebungen die in fatale, überraschende oder verblüffende Entäußerungen mündeten, nie aber in unentschlüsselbaren. Hier reichte die Inszenierung leider nicht an die filmische Vorlage heran.

Wolf Banitzki

 


In einem Jahr mit 13 Monden

von Rainer Werner Fassbinder
Drehbuch nacherstellt nach einem Filmprotokoll von Juliane Lorenz

Thomas Loibl, Philip Dechamps, Mathilde Bundschuh, Nora Buzalka, Marcel Heuperman, Götz Schulte

Regie: Aureliusz Śmigiel