Residenztheater Mauser von Heiner Müller


 

Gewalt – das letzte Bildungserlebnis

Nach „Balkan macht frei“ nun Oliver Frljić zweite Arbeit am Münchner Residenztheater: „Mauser“ von Heiner Müller. Müller, der, wie er selbst gestand, keine einzige Geschichte selbst geschaffen, sondern immer adaptierte hatte, ließ sich für „Mauser“ von Brechts „Die Maßnahme“ inspirieren. Dieses knappe Werk ist ein so genanntes Lehrstück. Brecht machte explizit zu seinen Lehrstücken Anmerkungen, die Missverständnisse ausschließen sollten: „Diese Bezeichnung (Lehrstücke. Anm. W.B.) gilt nur für Stücke, die für die Darstellenden lehrhaft sind. Sie benötigen so kein Publikum.“ Müller, der die Potenzen der Brechtschen Lehrstücke erkannt hatte, auch und vor allem in der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen (vorgeblich revolutionären) Verhältnissen im Ostblock, adaptierte „Die Maßnahme“ in dem Bestreben, das Theater voranzutreiben. Das bürgerliche Rollentheater erschien ihm unzulänglich, als Instrument der Erkenntnisgewinnung. Im Mittelpunkt stand dabei der Mensch, nackt und bloß den gesellschaftlichen Konflikten ausgeliefert. Im Fall „Mauser“ ist der Mensch, um den Konflikt auf höchste existenzielle Ebenen zu treiben, in einer revolutionären Umwälzung eingebunden. Die Geschichte spielt in Witebsk während des russischen Bürgerkriegs 1917/18 – 1922/23, als dessen Ergebnis die Gründung der Sowjetunion stand.

Der Genosse A hatte den Auftrag der Partei, im Namen der Revolution die Feinde der Revolution zu eliminieren. Er übernahm die Aufgabe vom Genossen B, der bei der Ausübung des gleichen Auftrags zu viel Milde gezeigt und darum versagt hatte. A musste als erstes B töten. In den folgenden 10 Tagen erfüllte er seine Aufgabe korrekt. Doch dann warf er die Last des Tötens und der Toten ab und machte einen lustvollen Exzess aus seiner Aufgabe. Er tanzte auf den Toten und hatte damit gegen die Parteidisziplin verstoßen. A war zum Problem geworden, und musste nun seinerseits eliminiert werden.

Oliver Frljić erklärt in einem Interview, abgedruckt im Programmheft zur Inszenierung, dass Revolutionen auch zukünftig nicht ausgeschlossen werden können, denn der Kapitalismus kann nicht das Ende der gesellschaftlichen Entwicklung sein. Somit stellt sich die existenzielle Frage nach der Rolle des Individuums. Geht er in der revolutionären Aufgabe auf, verliert damit seinen Rang als Individuum, und notgedrungen für eine bessere Welt unter?

Oliver Frljić gesteht, dass er nicht an die weltverändernde Fähigkeit der Kunst glaubt. Aber er glaubt daran, durch die Kunst das Menschsein besser verstehen zu können. Das Theater als Labor. Das ist ein vernünftiger Ansatz, denn im Theater kann das Menschsein durchgespielt und unter unterschiedlichsten Bedingungen erfahren werden. Einzig, der Tod selbst kann nicht erfahren werden. Zumindest besteht die Hoffnung. An dieser Stelle kommt nun das Lehrstück ins Spiel, das nach sehr strengen Regeln funktioniert und erst einmal nur dem Spielenden Erkenntnis bringt. Dennoch hat natürlich die Betrachtung des Lernvorgangs ein didaktisches Anliegen. Das Publikum kann im Spiel mit „verwertet“ werden. Für die Spielweise auf der Bühne empfiehlt Brecht: „ Ästhetische Maßstäbe für die Gestaltung von Personen, die für Schaustücke (also das, was der Zuschauer im Residenztheater üblicherweise zu sehen bekommt – Anm. W.B.) gelten, sind beim Lehrstück außer Funktion gesetzt. Besonders eigenzügige, einmalige Charaktere fallen aus, es sei denn, die Eigenzügigkeit und Einmaligkeit wäre das Lehrproblem.“

  Mauser  
 

Christian Erdt, Marcel Heuperman, Franz Pätzold, Nora Buzalka

© Konrad Fersterer

 

Nun, genau das war nicht der Fall. So ging es vornehmlich darum, den handelnden Personen keine individuellen Züge zu verleihen. Es standen sich gegenüber: tötende Revolutionsgardisten und der Chor als Hüter der revolutionären Idee. Bauern, die zur Hinrichtung geführt wurden, blieben erdfarben – Statisten der Geschichte. Frljić, der für seine Radikalität bekannt ist und dafür häufig angefeindet wird, geht auch noch den finalen Schritt und nahm den Darstellern ihre Kleidung. Damit war auch die letzte Möglichkeit von Individualität ausgemerzt und, um das hinreichend  sichtbar zu machen, ließ er die vier Darsteller, Nora Buzalka, Christian Erdt, Marcel Heuperman und Franz Pätzold, die unentwegt die Rollen gewechselt hatten, zuletzt splitterfasernackt lange Zeit Holz hacken, während sich Alfred Kleinheinz als Elfriede Jelinek und Heiner Müller zu Problemen des Kunstschaffens oder zum Leben in der DDR befragen ließ.

Es war ein hochkomplexes, intellektuell sehr anspruchsvolles Werk, das Momente äußerster Intensität aufwies. Diese Momente waren zumeist an die gewaltige und auch gewalttätige Sprache Müllers gekoppelt. Es war aber dennoch kein in sich geschlossenes Werk, das an manchen (Szenen-) Enden ins Leere lief. Verunsicherung und emotionalen Druck erzeugte es allemal, auch Unverständnis, denn es bedurfte einfach zu viel Wissens um die Haltungen und poetischen Auffassungen Müllers und Brechts, um den Focus der Betrachtung steuern zu können. Es ist dringend angeraten, das Programmheft vorher zu lesen. Dann versteht man auch, warum Heiner Müller übergroß auf einem Prospekt an der Bühnenrückwand das Spiel überwachte. Er war sinngemäß der Ansicht, dass die unkritische Verwendung Brechts Verrat an dem großen Dramatiker sei. Wenn Nora Buzalka am Ende eine Eisskulptur von Müller auf Marmorsockel mit einer Axt zertrümmert, dann, um den Weg freizumachen, das Werk Müllers in philosophischem oder künstlerischem Sinn aufzuheben und weiter zu entwickeln.

Die Frage, ob gesellschaftlicher Wandel ohne Gewalt zu haben sei, ist für das Publikum nicht hinreichend beantwortet worden, obgleich sich ungute Ahnungen breit machten. Interessant wäre es, zu erfahren, welchen Erkenntnisprozess die Darsteller durchlaufen haben und zu welchen Schlüssen sie gekommen sind, denn nach den Regeln des Lehrstückes waren sie die Lernenden. Man kann Oliver Frljić nicht vorwerfen, diese große Frage nicht schlüssig beantwortet zu haben, denn selbst Müller fühlte sein eigenes Scheitern überdeutlich. Seine Zukunftsvision stellt sich bereits 1977 wie folgt dar: „Die christliche Endzeit der MASSNAHME ist abgelaufen, die Geschichte hat den Prozess auf die Straße vertagt, auch die gelernten Chöre singen nicht mehr, der Humanismus kommt nur noch als Terrorismus vor, der MolotowCocktail ist das letzte bürgerliche Bildungserlebnis.“ (Programmheft S.15) Wie weitsichtig der 1995 verstorbene Dramatiker Heiner Müller doch war.

Wolf Banitzki

Noch eine Anmerkung: Alfred Kleinheinz war bei der Verbeugung nach der 2. Vorstellung gestürzt und unfähig, wieder aufzustehen. An dieser Stelle soll, verbunden mit den besten Wünschen, der Hoffnung Ausdruck verliehen werden, dass er sich nicht ernstlich verletzt hat und bald wieder auf der Bühne steht.

 


Mauser

von Heiner Müller

Franz Pätzold, Alfred Kleinheinz, Marcel Heuperman, Nora Buzalka, Christian Erdt

Regie/Bühne/Musik: Oliver Frljić

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