Marstall  Erschlagt die Armen! von Shumona Sinha


 

Politisch korrekt oder doch die Wahrheit

In seinem Prosagedicht „Erschlagt die Armen!“ erzählt Charles Baudelaire die Geschichte eines wohlsituierten Mannes, der eines Abends in einem abgelegenen Stadtteil von einem Bettler um ein Almosen gebeten wird. Doch anstatt ihm dieses Almosen zu gewähren, beginnt der Mann auf den Bettler einzuprügeln. Als dieser bereits am Boden liegt, ergreift der Mann einen Ast und prügelt weiter auf ihn ein, als wolle er ihn erschlagen. Der Bettler, ein ausgemergeltes Gerippe, rafft sich in höchster Not auf, und prügelt nun, erfolgreich auf die Beine gekommen, seinerseits auf den Angreifer ein und fügt ihm einige Blessuren zu. Als der feine Herr spürt, dass der Bettler ihm im Kampf durchaus ebenbürtig ist, unterbricht er den Kampf, gratuliert dem Mann, dass er endlich seine Würde und seine Kraft wiedergefunden hat, teilt mit ihm seine Börse und gibt ihm den Rat, die aus diesem Zwischenfall resultierende Einsicht unter Seinesgleichen zu verbreiten.

Die 1973 in Kalkutta geborene Schriftstellerin Shumona Sinha gab ihrem Roman denselben Titel wie Baudelaires Prosagedicht. Tatsächlich ähneln sich die Geschichten in ihrem Wesen. In Shumona Sinhas Roman muss sich eine Frau dafür verantworten, dass sie in Paris einem Asylbewerber eine Flasche auf den Kopf geschlagen hat. Die Protagonistin arbeitete in einer Ausländerbehörde, in der sie die Aussagen der Asylsuchenden übersetzen und auch hinterfragen musste. Alle Bewerber ersuchten um Asyl, weil sie vorgeblich politisch verfolgt wurden. Die stereotypischen Aussagen waren vorgefertigt und bedienten die Mechanismen eines Asylverfahrens aus politischen Gründen. Die Probleme begannen bereits damit, dass ihre männlichen Landsleute ihre Rolle als Befragerin als völlig unakzeptabel empfanden, entsprach diese Konstellation doch ganz und gar nicht dem heimischen Rollenbild. Zudem verstrickten sich die Befragten schnell in Widersprüche und bald schon wurde offensichtlich, dass es sich bei den meisten um „Wirtschaftsflüchtlinge“ handelte. Sie, die sich strikt an die Gesetze halten wollte, wurde zur „Verräterin“ an den eigenen Landsleuten (erklärt).

Ihr Konflikt, um Wahrheit bemüht zu sein und die Asylsuchenden zu überführen und sie damit abzuweisen, drohte die Frau zu zerreißen. Sie selbst hatte ihr Aufenthaltsrecht durch das Studium im Land und eine Anstellung bei einer staatlichen Behörde sicher. Und so brach sich ihre Aggression, resultierend aus ungerechtfertigten Vorwürfen, Anschuldigungen und Missachtungen zwangsläufig Bahn. Sie wurde zum Opfer eines unvollkommenen und zum Teil auch menschenverachtenden Asylsystems. Die Unzulänglichkeit wird mit einem einzigen Satz schlüssig erklärt: „Aber Menschenrechte enthalten nicht das Recht, dem Elend zu entkommen.“

  Erschlagt die Armen  
 

Anna Drexler

© Konrad Fersterer

 

Zino Wey, 1988 in der Schweiz geboren, brachte diesen, seit seinem Erscheinen hochbrisanten Text auf die Bühne des Marstalls und somit eine wirklich neue Facette in der alle Bereiche des Lebens berührende Diskussion zum Thema. Er leistete damit etwas, was eine echte Tugend des Theaters ausmacht, nämlich im Spiel Wahrheiten ans Tageslicht zu bringen, die die Öffentlichkeit scheuen, die aber notwendigerweise diskutiert werden müssen. Anna Drexler fiel die Rolle der indischen Frau zu, die sich und ihre Tat in einem Pariser Gefängnis erklären muss. Für seine Inszenierung ließ sich Zino Wey eine schiefe Ebene auf der Bühne installieren, die anfangs mit einer schützenden Folie überzogen war. Der Himmel darüber war mit zahllosen Kopfhörern bestückt, aus denen immer wieder die Stimmen der Asylsuchenden oder der Befragenden wisperten. Anna Drexler gab eine sensible, umtriebige, in sich zerrissene junge Frau, die nach ihrer Tat keinen Boden mehr unter die Füße bekam. Und wenn am Ende Bestrafung stehen sollte, war das auch wieder nur ein Indiz dafür, dass das System versagt, denn Fehlleistungen wie die der jungen Frau waren immanent und vorhersehbar. Eigentlich hätte ihr Hilfe zuteilwerden müssen.

Anna Drexlers Spiel war ausgeklügelt, äußerst intensiv, körperbetont und stimmgewaltig. Es war eine Augenweide, wenngleich gewarnt werden muss, denn sie ist eine Darstellerin, die um ihre Wirkung weiß und darum, wie sie das Publikum vereinnahmen kann. Sie verfügt über einfache und sehr wirkungsvolle, sich häufig wiederholende Gesten, die ihr einen etwas putzigen, manchmal sogar clownesken, in jedem Fall aber den Beschützerinstinkt des Betrachters weckenden Ausdruck verleihen. Es ist häufig nur ein linkisches Abspreizen eines Fingers oder ein kindliches am Kostüm nesteln, was bei näherer Betrachtung grenzwertig manieristisch wirkt. Insbesondere, wenn man sie aus mehreren Inszenierungen kennt. Das tat der Wirkung ihres Spiels auf der Marstallbühne allerdings keinen Abbruch, denn nachdem man Anna Drexler in dieser Rolle so überzeugend und einprägsam erlebt hat, ist eine andere Besetzung nur schwer vorstellbar. Entscheidend ist, dass die Botschaft der Inszenierung klar und deutlich über die Rampe kam. Das machte die Inszenierung mit allen ihren gelungenen Komponenten, Licht von Monika Pangerl und Musik Ole Brolin und Zino Wey, zu einer wertvollen, deren Besuch unbedingt empfohlen wird.

Der Roman hatte bei seinem Erscheinen eine verstörende Wirkung, denn er war nicht das, was man „politisch korrekt“ nennt. Hinter den behandelten Problemen des politischen und/oder wirtschaftlichen Asyls und des Stromes der Suchenden hat der Roman mindestens ein weiteres, ebenso großes Problem (vielleicht unbewusst) transportiert. Nämlich unsere Unfähigkeit im politischen Kontext die Wahrheiten zu formulieren oder zuzulassen. Der eigentliche Plot der Geschichte liegt außerhalb des Romans und ist der, dass Shumona Sinha nach Erscheinen des Buches im Jahr 2011 ihren Arbeitsplatz bei der französischen Migrationsbehörde verlor. Das Ausblenden von Wahrheiten, das Verschweigen oder das Ersetzen durch „politisch korrekte“ und somit alternative Formulierungen führt nur zur Spaltung der Gesellschaft und dazu, dass sich Populisten einfinden und die liegengelassenen Wahrheiten aufgreifen und sie schamlos ausnutzen. Die zwingende Frage aus dieser Inszenierung ist: Politisch korrekt oder doch die Wahrheit? Die Wahrheit war noch immer der bessere Weg.

 

Wolf Banitzki

 


Erschlagt die Armen!

von Shumona Sinha
Deutsch von Lena Müller

Anna Drexler

Regie/Bühne: Zino Wey