Marstall  Ur  von Sulayman Al Bassam


 

Weltendämmerung

Es ist eine Geschichte, die einen Zeitraum von gut 4000 Jahren umreißt. Kern des dramatischen Entwurfs des kuwaitischen Autors und Regisseurs Sulayman Al Bassam ist die „Klage über die Zerstörung der Stadt Ur“. Diese „Klage“ entstammt einer literarischen Tradition, die in Mesopotamien ein ganzes Genre bildete. Es gibt eine Vielzahl derartiger Klagelieder über die Zerstörung von Städten des Altertums. Der konkrete historische Hintergrund reicht bis in die Zeit um 2000 v. Ch. zurück, als die 3. Dynastie der Herrscher von Ur, eine blühende Metropole im Osten des „fruchtbaren Halbmondes“, unterging und die Stadt dem Erdboden gleich gemacht wurde. Göttertochter und Herrscherin Nin-Gal, sehr weiblich bis lasziv von Lara Ailo gespielt, liebte einen feindlichen Elamiten namens Elam, Tim Werths verlieh der Figur antike Schönheit und machte die hingebungsvolle und sehr sinnliche Liebe, durchaus geeignet für einen Mythos, glaubhaft. Nin-Gal beauftragte ihre Schreiber, sie hatte die Soldaten allesamt durch Schreiber ersetzt, Gedichte auf diese Liebe zu machen, in denen vor allem die Erotik nicht zu kurz kommen sollte.

Als Ur von Feinden bedrängt wurde, ließ Nin-Gal die Tore der Stadt öffnen und Freunde wie Feinde ein. Sie baute auf die Kraft des Wortes, auf die Poesie, um die Aggression zu stoppen. Es waren ihr eigener Ehemann Nanna, Gott des Mondes, und ihr Vater Enlil, Gott des Windes, die ihr in den Rücken fielen. Mohamad al Rashi spielte ersteren als engherzigen und eifersüchtigen Ehemann, den anderen als herrschsüchtigen Patriarchen. Mit der Begründung, eine Schutzmacht aufzubauen, belagerten sie Ur. Doch Nin-Gal ließ sich nicht einschüchtern und bot beiden die Stirn. Als die Männer erkennen mussten, dass diese Frau sich ihrem Willen und dem patriarchalen Regime nicht beugen würde, war der Untergang der Stadt besiegelt. Alles Flehen der Königin half nicht: „Wahrlich, ich vergoss meine Tränen vor An.“ Wahrlich, ich selbst flehte Enlil an. „Lasst meine Stadt nicht zerstört werden“, flehte ich sie an.“Lasst Urim nicht vernichtet werden“, flehte ich sie an. Ich flehte sie an, aber An änderte das Wort nicht. Enlil beruhigte mein Herz nicht mit einem „Es ist gut – so sei es“. (Originaltext aus dem Klagelied, 144-150)

Eine zweite Ebene des Stückes spielte im Jahr 1903. Deutsche Archäologen unter der Leitung des Begründers der „Deutschen Orient-Gesellschaft“ Friedrich Delitzsch, gruben das antike Babylon aus. Delitzsch stand unter dem Patronat des deutschen Kaisers und er hatte ein ganz eigenes Motiv für seine Forschungen. Der verkappte Antisemit Delitzsch, Gunther Eckes in schneidiger Herrenmenschenpose, wollte den Nachweis erbringen, dass Jesus arischer Abstammung war und somit die christliche Religion den Juden entreißen, in dem er die babylonische Kultur direkt in das „Neue Testament“ aufgehen lässt. Die sumerischen Klagelieder finden in den alttestamentarischen Klageliedern des Jeremias deutliche Entsprechungen. Zudem war „Ur in Chaldäa“ (Genesis 11:28) das Vaterland Abrahams, das er mit seiner Familie verließ, um in jenes Land auszuwandern, welches Gott ihnen wies. (1. Buch Mose 11:31, 12:1) Delitzsch war besessen von dieser Idee, trieb die Archäologen an und forderte unentwegt Beweise für seine krude Theorie. Die Archäologen Robert Koldewey, ruhig und überlegt gegeben von Bijan Zamani, und Walter Andrae (Tim Werths) gerieten in einen heftigen Diskurs, der den Sinn ihrer Arbeit infrage stellte. Andrae erwog, die voraussichtlichen Funde lieber zu zerstören, als sie Delitzschs Fantasien auszuliefern.

  Ur  
 

Lara Ailo, Tim Werths, Dalia Naous

© Thomas Dashuber

 

Die dritte Ebene spielte im jetzt und heute, in der IS-Terroristen die Ausgrabungen, wie in Palmyra geschehen, zerstörten und ihre Wächter, die wissenschaftlichen Sachwalter auf grausame Weise ermordeten. Die Wahnvorstellung der Islamisten, die Welt mit einer einzigen Religion zu überziehen und sie somit zu einem Paradies zu machen, endet wieder in der Zerstörung von Städten und Stätten der Geschichte, die sogar Quellen des Islam waren. „Oh Stadt, deine Riten wurden dir entfremdet, deine Kräfte wurden in fremde Mächte verwandelt.“ (Originaltext aus dem Klagelied, 64-71) In Sulayman Al Bassams Inszenierung blieb der Palast Nin-Gals oder auch der Palast von Babylon – im schlichten, aber monumental steinern aufragenden Bühnenbild von Eric Soyer wurden beide Ort in einem Bild realisiert – verschont, weil der Sprengstoff nicht zündete. So komisch kann Geschichte auch sein.

Die vierte Ebene schließlich spielte im wieder aufgebauten Mossul im Jahr 2035. In einem sehr noblen Appartement artikulierte eine Frau ihrem Ehemann gegenüber ihr Unbehagen im Angesicht einer antiken Büste. Es war eine stark fragmentierte Skulptur Nin-Gals. Der Mann weigerte sich, diese Büste zu entfernen, denn er hatte dafür viel Geld auf dem Schwarzmarkt bezahlt. Die Frau stellte verängstigt fest, dass die Figur der Nin-Gal „nicht frei“ sei, und gestand ihrem Mann im selben Atemzug eine Schwangerschaft. Der Mann orakelte nach einer kurzen Pause des Besinnens, als suchte ihn eine unausweichliche Wahrheit heim: „They’ll kill us both“. Ein Museumskurator sang: „Nin-Gal is not dead, Nin-Gal cannot die,…“

Es war ein große Geschichte, nicht nur in Bezug auf den Umfang und die Vielzahl der angesprochenen Themen, die Sulayman Al Bassam auf der kleinen Bühne des Marstalls in Arabisch, Englisch und Deutsch von wunderbaren, zum Teil in für deutsche Theaterbesucher exotischer ästhetischer Sprache erzählen ließ. Unter dem Dach des großen zeitlichen Bogens agierte der Mensch immer wieder auf die gleiche zerstörerische Weise unter Benutzung derselben hanebüchenen Begründungen in gegensätzlichsten Konstellationen. Man konnte meinen, dass der Mensch darin wetteifere, immer noch dümmere Argumente zu finden für noch exzessivere Zerstörungen. Lichtgestalten wie Nin-Gal, mythische Verkörperungen der Liebe und Poesie, scheinen ausschließlich prädestiniert zu sein für die Opferrolle. Und an dieser Stelle muss angemerkt werden, dass es sich um historische Begebenheiten handelte, denn wir haben Kunde davon. So klingt die Klage einer Person, der Poesie mächtig, die vor 4000 Jahren sprach: „ Möge dieser Sturm, wie Regen vom Himmel herab, nie wiederkehren. Möge dieser Sturm, der alle schwarzköpfigen Lebewesen von Himmel und Erde erschlagen hat, vollkommen zerstört sein. Möge die Tür geschlossen sein, wie das große Stadttor zur Nachtzeit. Möge dieser Sturm keinen Platz in der Rechnung haben, möge seine Aufzeichnung an einen Nagel außerhalb des Hauses von Enlil gehängt werden.“ (Originaltext aus dem Klagelied, 411-416.)

Im Marstall endete die ästhetisch beeindruckende und inhaltlich bedrückende Inszenierung damit, dass IS-Terroristen die Lunte entzündeten. Sie brannte von beiden Seiten und damit doppelt so schnell, was auch eine beängstigende deutliche Botschaft war. Sie, die Terroristen hatten das letzte Wort. Damit artikulierten Sulayman Al Bassam und seine Mitstreiter eine sehr eindringliche Mahnung. Gemeint war damit nicht die kleinmütige Angst vor dem „Fremden“, quantitativ im täglichen Leben übrigens kaum messbar und darum mehr im Kopf existent, die uns in die Aggression treibt, sondern die Tatsache, dass wir seit Tausenden von Jahren nicht begreifen, dass uns fast ausschließlich Angst immer schneller und zerstörerischer durch eine Gewaltspirale treibt, als wäre es unser Schicksal.

Schicksal ist eine Erfindung von Kleingeistern und Demagogen! Folgte man der Vorstellung Nin-Gals und ersetzte man Gewalt durch Liebe und Hasstiraden durch Poesie, würde es ganz sicher anders aussehen. Es ist, als wolle sich der Mensch tagtäglich aufs Neue beweisen, dass das Gute ans Kreuz genagelt gehört. Merken Sie was, verehrte Leser? Weltuntergangsstimmung macht sich breit und wir beginnen sie zu genießen. Bleibt zu hoffen, dass wir dieser Stimmung bald überdrüssig werden, denn auf Dauer ist der Weltuntergang, insbesondere wenn er nicht eintritt, womit ja durchaus auch zu rechnen ist, nicht sonderlich unterhaltsam.

 

Wolf Banitzki


UA Ur
von Sulayman Al Bassam
Deutsch von Frank Weigand

Lara Ailo, Tim Werths, Hala Omran, Dalia Naous, Marina M. Blanke, Mohamad al Rashi, Gunther Eckes, Bijan Zamani

Regie: Sulayman Al Bassam