Marstall Victory Condition von Chris Thorpe
Störfaktor Gefühle
In der neoliberalen Welt muss, wer „überleben“ will, sich für den Sieg konditionieren. Hinderlich im durchdigitalisierten Leben sind dabei Skrupel, Selbstzweifel und vor allem lästige und unkontrollierbare Gefühle. Hinderlich sind aber auch die Banalitäten des Lebens. Die kann man immerhin dank der technischen Entwicklung outsourcen, in dem wir die uns umgebenden technischen Einrichtungen auf dieselbe Informationsebene heben, auf der wir selbst, nun überaus effizient, agieren. Dabei vernetzen wir die belebte und die unbelebte Materie soweit, bis wir den Überblick verlieren, und dann werden wir, nach allen Seiten hin offen, zum ungeschützten Raum und zum angreifbaren Subjekt. Das ist der Preis, der gezahlt werden muss, wenn wir uns zum großen Ganzen, also zum Geldstrom, dazugehörig fühlen wollen. Die Mehrzahl unserer Zeitgenossen glaubt diesen Schwachsinn und kniet nieder vor dem neuen Gott Digital. Dann kann es allerdings passieren, dass uns irgendwelche Impulse, wir wissen nicht woher sie kommen und auch nicht wer sie möglicherweise geschickt hat, aus der Bahn werfen. Wir werden unwissentlich „umprogrammiert“ oder in Besitz genommen.
In Chris Thorpes Theaterstück „Victory Condition“ wird ein Ehepaar von eben diesem Phänomen eingeholt. Gemeinsam kehren sie von einer Reise in ihr stylisches Appartement zurück und sortieren sich selbst wieder akribisch in ihre vollkommen digitalisierte und optimierte Welt ein. Und während sie ihre Hygieneartikel fein säuberlich aufgereiht an dem einzig richtigen Ort platzieren, ihre Kleidung ebenso fein säuberlich an den vorgeschrieben Platz bringen, eine Dusche nehmen, ein Fertiggericht in der Mikrowelle bereiten, ein paar Eier braten, nicht ohne vorher die fein gebügelte Schürze angelegt zu haben, überfällt es sie urplötzlich und ein Redestrom bricht aus ihnen hervor, der, hier sind grundsätzliche Zweifel angebracht, tatsächlich der eigene ist. Er, der Mann, der für den Staat arbeitet, erklärt mit größtmöglicher Präzision, wie er, oder wer auch immer, als Scharfschütze einen Menschen töten wird. Er wurde abkommandiert, um in einer Gruppe Protestler, die nebenher auch Molotow-Cocktails basteln, ein staatsfeindliches Subjekt zu eliminieren. Sie, die Frau, überfällt unvermittelt die Vorstellung, sie sei auf einem U-Bahnsteig zusammengebrochen und kann sich selbst nicht mehr helfen… Beide beginnen sich in komplexen Bildern, schließlich ist alles vernetzt, zu verlieren. Scheinbar ohne zwingenden Grund schleichen sich unverhofft Gefühle für ein unbekanntes Mädchen mit großer Anziehungskraft ein. Dem Mann, der vorgibt ein Präzisionsschütze zu sein, besitzt urplötzlich nicht mehr genügend feinmotorische Fähigkeiten, ein Getränk in ein Glas zu gießen. Der Frau ergeht es nicht besser. Zwischendrin gibt es Momente des ängstlichen Innehaltens wenn die Türglocke schellt. Vor der Tür steht ein anonymer Mann in Motorrad-Kombi und Helm auf dem Kopf. Einmal bringt er eine DVD mit einem Militärspiel, ein zweites Mal eine Pizza. Zuletzt nur eine kryptische Botschaft.
Regisseur Sam Brown brachte das Stück von Chris Thorpe als deutsche Erstaufführung auf die Bühne des Marstalls. Da das Stück in einem hermetisch abgeschlossenen Appartement spielt, brachte Sam Brown konsequenterweise einen geschlossenen Raum auf die Bühne. In Brusthöhe befand sich ein umlaufendes Fenster, durch das das Publikum, wohlgemerkt stehend, Einblick nehmen konnte. (Bühne und Kostüme Alex Lowde) Der Theaterbesucher, der sonst artig auf seinem nummerierten Stuhl sitzt, wurde so zu einem Voyeur gemacht, der teilhatte an den intimsten Vorgängen, die weniger ausgestellt, als vielmehr szenisch gelebt wurden. Mit Nora Buzalka und Till Firit war das Paar erstklassig besetzt. Die Nähe erlaubte dem Zuschauer geradewegs intime Einblicke in die Schauspielkunst der beiden Hochkaräter. Till Firits großartige Sprechkultur machte die Beschreibung der Kalkulation eines tödlichen Gewehrschusses zu einem Gänsehautmoment. Nora Buzalkas Entsetzen, sich hilflos in einer Situation des physischen Ausgeliefertseins zu befinden, beschrieb in der Doppeldeutigkeit auch die Situation der Möglichkeit des Ausgeliefertseins im Netz. Man erinnere sich an Shitstorms oder Hackerangriffen, verbunden mit Kontrollverlust und der Konfrontation mit einem entfesselten Mob. Dabei ist das erst der Anfang, denn die fortschreitende Vernetzung wird den Bürger in ein gläsernes, zerbrechliches und verletzbares Wesen verwandeln, dessen eigener Wille durch im Hintergrund bewusst- und gnadenlos agierende Logarithmen zunehmend manipuliert wird.
Till Firit, Nora Buzalka © Armin Smailovic |
Die Inszenierung blieb, was die Aussage betrifft, vage. Es war vielmehr ein Vexierspiel in einer Welt der Bilder, die sich in Details und Marginalien verliert, weil diese alle vornehmlich Geschäftsfelder sind. Siegen heißt in dieser Welt zuallererst ökonomisch erfolgreich zu sein. Verloren geht und auf der Strecke bleibt dabei alles das, was den Menschen einzigartig und charaktervoll macht. Nie war das Menschenbild so verworren, komplex und fragil zugleich. Im Grunde kann man den Zustand nur als einen Auflösungszustand begreifen, einer lustvollen Vereinigung mit der digitalen Welt. Es gibt Zeitgenossen, die lassen sich elektronische Haustürschlüssel zu ihren Wohnungen unter die Haut in ihren Körper einpflanzen. Abgesehen davon, dass der Sinn höchst fraglich ist, von der Schönheit eines Schlüsselbundes und dem haptischen Vergnügen es zu fühlen und zu benutzen ganz zu schweigen, stellt sich doch die Frage, wie viel Respekt der Mensch noch vor dem eigenen Körper hat. Für eine physische Vereinigung mit der digitalen Welt scheint er indes bereit zu sein.
Nie war die Manipulation durch die Bilder so stark und moralisch so fraglich. Wenn vor gar nicht allzu vielen Jahren ein Mensch unerwartet fotografiert wurde, dann empfand er den Vorgang zumeist als unbehaglich. Heute posieren die Menschen vor jeder der Abermillionen Kameras im öffentlichen und privaten Raum in der Hoffnung, auf irgendeiner Plattform, in irgendeinem Forum oder sozialen Medium wahrgenommen zu werden. Noch stärker als der Voyeurismus scheint doch inzwischen der Drang zum Exhibitionismus zu sein, und das mit fatalen Folgen.
Der Mensch ist längst nicht mehr in der Lage, die ethischen Probleme, die der rasante technische Fortschritt hervorbringt, überwiegend befeuert von Profitgier, auch nur ansatzweise zu lösen. Zumeist ist er sich der Probleme noch nicht einmal bewusst. Das und einiges mehr lassen sich aus der Marstall-Inszenierung herauslesen, die ästhetisch wie darstellerisch durchaus gelungen ist. Auch der Einfall, das Publikum zu stehenden Voyeuren zu machen ist keineswegs unlogisch. Big Brother is waching you. In diesem Fall ist das Publikum der große Bruder, ob es will oder nicht. Doch Vorsicht, selbst eine kurzweilige Stunde Spielzeit können physische Probleme mit sich bringen, Ohnmacht inbegriffen, wie in der 2. Vorstellung geschehen. Man sollte sich also vorab befragen, ob man sich für dieses Experiment eignet. Empfehlenswert ist die Inszenierung allemal, wenngleich am Ende eine Menge Fragen offenbleiben.
Wolf Banitzki
Victory Condition
von Chris Thorpe
Deutsch von Katharina Schmitt / Deutschsprachige Erstaufführung!
Mit Nora Buzalka, Till Firit Regie Sam Brown |