Marstall Stille Nachbarn von Azar Mortazavi
Wir sind alle allein
Das Stück „Stille Nachbarn“ von Azar Mortazavi ist ein Stück über Einsamkeit in der Gemeinschaft, über das Verlorensein in einer vermeintlich sicheren Welt. Vier Menschen bevölkern den Mikrokosmos, den die Autorin exemplarisch ausstellt. Da ist Charlotte Grau, die sich einer beginnenden Demenzerkrankung ausgeliefert sieht und an Orientierung verliert. Was übrig bleibt, lässt sie hartherzig und widerspenstig erscheinen. Äußere Feinde bevölkern ihre Fantasie: „Man wird uns aussaugen, wie das Kaninchen meines Kindes.“ Ihr Kind heißt Isabell und Charlotte hat es nie geliebt, zumindest glaubt sie es, denn die Erinnerungen lassen ihr keine Wahl. Für sie war es immer das hässlich, dicke Kind mit den unförmigen Waden, schon als kleines Mädchen mit Schultüte. Recht scheint ihr dabei zu geben, dass Isabell sie in ein Seniorenheim „abgeschoben“ hat. Die neue Umgebung, man könnte sie ja nach Gutdünken persönlich einrichten, wird rigoros abgelehnt.
Isabells Versuch, eine bürgerliche Existenz zu leben, ist mehr als fadenscheinig. Gemeinsam mit ihrem Mann, von dem man nicht weiß, ob er tatsächlich jemals existiert hat und dessen permanente Abwesenheit mit Migräne entschuldigt wird, hat sie eine Wohnung gekauft. Die wird renoviert und ist eine Baustelle, was zusätzlich, neben der feindlich gesinnten Mutter, an Isabells Nerven zehrt. Isabell weicht aus in das Leben ihrer Nachbarin Leyla, drängt sich in deren kleine Welt. Leyla, eine introvertierte junge Frau, lebt gemeinsam mit Ibrahim, einem Studenten, der hofft, irgendwann mit seinem Studium fertig zu sein, um endlich frei von materieller Bedrängnis leben zu können. Es ist allerdings kein Ende absehbar und Ibrahim flieht immer wieder in seine Aufgabe als Übersetzer in ein nahe gelegenes Flüchtlingsheim. Leyla hofft auf ein gemeinsames Leben mit Ibrahim, denn, was der nicht weiß, sie ist schwanger. Schließlich passiert etwas, man erfährt nicht was. Nur so viel, es hat etwas mit den „Landsleuten“ von Ibrahim zu tun. Leyla hält dagegen: „Er ist hier geboren!“
Es ist ein Stück ohne Plot, ohne Anfang und ohne Ende. Es ist ein Ausschnitt aus einer scheinbar beliebigen Welt, die unaufgeregt vor sich hin dümpelt. Doch bei näherer Betrachtung stellt man schnell fest, dass es an allen Ecken und Enden gärt. Und obgleich die Autorin selbst in einem Interview, abgedruckt im Programmheft, darauf verweist, dass es die „aggressive rassistische Zuspitzung der letzten Jahre“ war, die sie zum Schreiben dieses Textes veranlasste, ist es vordergründig kein Stück über Ausländer- oder Rassenhass. Es ist vielmehr eine gesellschaftliche Bestandsaufnahme, die psycho-pathologische Zustände beschreibt, die letztlich in Ausländerhass und ähnlichem gipfeln, denn derartige Zustände haben immer wahnhafte, realitäts-verrückte Vorstellungen als Ausgangspunkt. Tatsächlich zeichnet Azar Mortazavi mit ihrem kleinfokussierten Ausschnitt ein beklemmendes Bild, das schwerlich dazu angetan sein kann ein allgemeines Lamento über den Zustand der Welt zu singen. Es könnte sogar dazu führen, die Verdrossenheit der Gesellschaft und dem Leben gegenüber auch zu befördern. Doch diese Entscheidung muss jeder Zuschauer für sich selbst finden und treffen.
Barbara Melzl, Bijan Zamani, Katrin Röver © Thomas Aurin |
Es ist ein hochpoetisches Werk, das in der Regie von Aureliusz Śmigiel eine kongeniale Umsetzung auf der Bühne des Marstalls fand. Die Textur des Werkes hat einen überbordenden Subtext, den sichtbar aufzustellen, nur eine artifizielle Inszenierung leisten konnte. Das ist fraglos geschehen.
Für den ersten Teil der knapp zweistündigen Inszenierung hatte Martin Eidenberger (Bühne und Video) die Welt in einen Minigolf-Parcours verwandelt, in dem Bahnen zu Straßen wurden, gesäumt von winzigen altmodischen Telegrafenmasten und Straßenlampen, oder auch zu einer sich in der Tiefe verengenden Wohnung, deren Ende ein Kühlschrank war. Das Bild war offen und sämtliche Darsteller konnten sich mehr oder weniger frei darin bewegen. Im zweiten Teil, nach aufwendigem Umbau in der Pause, bildete eine offene Pyramide das Zentrum der Bühne, aus der keiner der Akteure herauskam. Alles war in Schwarz und Weiß gehalten. Die Welt war kleiner geworden, zwanghafter, und folglich stieg der Stresspegel, denn es gab kein Entrinnen mehr. Ein Chor (Musik und Liedtexte Torsten Knoll) kommentierte das Spiel, der aus der Konserve eingespielt wurde. Videoprojektionen überlagerten das Bild bei Szenenwechsel mit flimmerndem, verpixeltem Schwarzweißlicht. Realität war damit aufgelöst und auf eine andere Wahrnehmungsebene gehievt worden.
Die Darsteller sprachen Texte, die viel traurige Befindlichkeiten spiegelten und die sich in ihrer Selbstdefinition zur These machten, auf die die Gegenüber ebenso als Antithese reagierten, denn nichts ging tatsächlich zusammen. Es gab kein Entrinnen aus dem: Am Ende sind wir alle allein! Und nicht nur das, wir geben auch alles weiter was wir erfahren haben, worunter wir gelitten haben, was wir als unvermeidlich einschätzen. Ein bewegender Moment war, als Bijan Zamani in der Rolle des Ibrahims einen Monolog an sein ungeborenes Kind hielt. Aureliusz Śmigiel hatte ihm dafür einen Fötus aus tropfendem Eis in den Arm gelegt. Stark dominiert wurde die Inszenierung durch das Spiel von Barbara Melzl als Charlotte Grau und Katrin Röver als ihre Tochter Isabell. Beiden hatte die Regie deutlich mehr Expression zugestanden. Dabei muss Barbara Melzl besonders herausgehoben werden, denn ihr Spiel erklärte wie kaum ein anderer Beitrag das Vage der menschlichen Existenz, das sich Zersetzende an sich in einer sich selbst zersetzenden Gesellschaft. (Es ist nicht nachvollziehbar, dass diese grandiose Darstellerin so selten auf den Bühnen des Staatsschauspiels zusehen ist!)
Doch auch Katrin Röver, die sich als Isabell in ein rechtes Licht setzen wollte, um Zuneigung zu gewinnen, um Einlass zu finden in eine menschliche Gesellschaft, und sei sie noch so klein, die dagegen anspielte, nicht das verworfene, ungeliebte, hässliche Kind zu sein, berührte vor allem wegen ihrer kontrastierenden leuchtenden Schönheit. Kostümbildnerin Laura Yoro hatte sie mit einem figurbetonten, leuchtendroten Kleid ausgestattet. Einzig Esther Schwartz blieb blass in der Rolle der Leyla, was aber vermutlich an der Kargheit ihrer Texte lag. Sie war die „Erwerbstätige“, um auch Ibrahim mitzutragen, der sich den äußeren Anforderungen seiner Existenz verweigerte. Sie war die still Leidende, die tief in ihrem eigenen Konflikt, der Schwangerschaft, verstrickt war.
Es war ein Theaterabend, der weniger die Ratio und viel mehr die Emotio ansprach. Eigentlich sollte das im Theater selbstverständlich sein. Allein, in der Diskurskultur, wie sie sich heute auch in den Kulturinstitutionen mit geringer Effizienz breit macht, werden mehr „Tore“ geschossen und das ist unterhaltsamer. Auch wenn man nicht alles mit Azar Mortazavi teilt, sich nicht unbedingt auf ihre Seite schlägt, hat sie dem Publikum doch in Zusammenarbeit mit Aureliusz Śmigiel einen bewegenden und berührenden Theaterabend mit hohem künstlerischen Anspruch geschenkt. Dafür sei ihnen gedankt.
Wolf Banitzki
Stille Nachbarn
von Azar Mortazavi
Mit: Barbara Melzl, Katrin Röver, Esther Schwartz, Bijan Zamani Regie: Aureliusz Śmigiel |