Marstall Wolken.Heim. von Elfriede Jelinek
Verloren im Mythos
Ausgangspunkt des Textes „Wolken.Heim.“ war das Studium Elfriede Jelineks von philosophischen Texten (Hegel und Fichte) und literarischen (Kleist und Hölderlin) zum Thema Mythos der deutschen Nation. Dass sie sich damit auf ein Minenfeld politischer Entartungen begab, war ihr nicht nur bewusst, sondern strategisches Ziel. Elfriede Jelinek ist eine Unerschrockene und scheut auch die notwendige Denunziation von Tätern nicht. Und sie ist Visionärin, wie der Weltzustand 30 Jahre nach dem Entstehen des Textes beweist.
Das Problem im Umgang mit Mythologie ist die Unfassbarkeit der Inhalte, denn der Mythos ist nicht Wissen, sondern Ahnen. Und das hebt auf eine emotionale Ebene, auf der alles möglich wird. Der Mythos ist wie ein Nebelschwaden in der Frühdämmerung. Ehe man ihn ergründet hat, ist er auch schon vom Licht der Sonne getilgt worden. Es gibt Menschen, die fühlen sich im Nebel wohler und aufgehobener, weil er keinen Anspruch auf Wahrheit erhebt. Im grellen Licht der Sonne ist die Selbstwahrnehmung unausweichlich und die fällt, ist man nicht gänzlich umnachtet, zumeist enttäuschender aus.
Und da der Mythos so viele Unwägbarkeiten mit sich bringt, eine Verifizierung sehr schwer (naturgemäß gar nicht) möglich ist, braucht es das „Wir“, in dem sich Bestätigung findet. Und gibt es das verschworene „Wir“ erst, gibt es keine Hemmungen mehr und man mythologisiert drauf los, bis man sogar erkennt, dass die Kondensstreifen der Flugzeuge am Himmel eine perfide Vergasungsaktion der Völker durch dunkle Mächte ist. Nichts ist dabei tauglicher sich der „mythologischen Wahrheit“ zu nähern, als die Begegnung mit der Natur, die nur (Und das kann gewiss auch notariell bestätigt werden!) die Wahrheit raunt.
Wenn „Wir“ nur genau hinhören, dann hören „Wir“ deutlich das Wispern der dunklen Mächte, der Alberichs und deren Horden willfähriger Gefolgsleute mit ihren „langen Nasen und fliehenden Stirnen“. Wer kann sich da schon den Bildern verweigern, zumal, wenn der Soundtrack von Wagner ist oder aus einem schönen deutschen, zu Herzen gehenden Volkslied besteht, in dem mindestens einige Linden oder Eichen vorkommen. Genau um diese Wanderer durch die berückenden Landschaften deutscher Wälder und Fluren geht es im Text von Frau Jelinek.
Sibylle Canonica, Mathilde Bundschuh, Ulrike Willenbacher, Thomas Huber © Matthias Horn |
Im Marstall, unter der Spielleitung von Matthias Rippert, wanderten sie indes nicht durch C.D. Friedrichsche Landschaften, sondern fanden sich in einem Wartesaal ein (Bühne Fabian Liszt). Der war in fein abgestuften, z.T. sehr eleganten Grautönen gefasst. Das war mehr als nur eine Farbe, das war die konsequente Abwesenheit von Farbe. Es war das Eliminieren von Farbe im alles gleichmachenden Nebel, in den Wolken, die zum Heim auserkoren wurden und in dem man sich gemeinsam einrichtete. Ein Reich – nicht von dieser Welt. Farbe, ein grelles Orange, schien nur durch die beiden Türfenster im Bühnenhintergrund, hinter der der Lärm der wirklichen Welt oder, wie Nitzsche es ausdrücken würde, der Lärm des Marktes tobte. Am Ende gelingt dank der Macht des Willens aber auch die Verwandlung des ohrenbetäubenden Lärms in heimeliges Vogelzwitschern. Hörbar wurde der Lärm nur beim Ein- oder Austritt der handelnden Figuren, die ebenfalls in elegantes Grau gewandet waren (Johanna Lakner). Einzig Mathilde Bundschuh trug ein Kopftuch, auf dem sich ein zartes farbliches Blütenmuster abzeichnete.
Nach dem Eintritt, auch nach jedem erneuten Auftritt der Wanderer deutschen Geistes, zog jeder von ihnen eine Nummer, wie es sich gehört in deutschen Landen, die allerdings nie aufgerufen wurde. Auf demselben Monitor, auf dem die Zahlen aufgerufen wurden, spielte ein Animationsfilm, der eine Familie im Auto auf der Landstraße, also einer Straße, die durch das schöne Land führte, zeigte. Man trat auf, setzte sich durch wenige Blicke oder Gesten ins Einvernehmen und philosophierte oder literarisierte auf überaus kultivierte Weise los. Dabei konnte man sich des Wohlwollens aller Anwesenden sicher sein, denn sie summierten sich zu dem erhofften und ersehnten „Wir“. Die Situation war allerdings unüberschaubar und Bedrohlichkeiten schwangen mit, wurden allerdings nie konkret. Wörter wie das „Fremde“ oder „Kulturen“, stets als Bedrohlichkeiten empfunden, reichen, sind wir einmal ehrlich, aus, um den politischen Pawlowschen Reflex auszulösen.
Die Texte wurden langsam und präzise gesprochen, waren monologisch und wurden durch die Anwesenden milde lächelnd, weise kopfnickend oder gar nicht kommentiert. Doch es gab auch Ausnahmesituationen, beispielsweise wenn Yannik Stöbener plötzlich, von einer folkloristischen Anwandlung übermannt, das Platteln anfing. Das nahm denn auch schon die bedrohlichen Züge des Marsches auf Stalingrad an. Als Thomas Huber das Philosophieren anfing, musste er sich entkleiden, denn die innere Selbstentblößung brauchte unbedingt einen äußerlichen Ausdruck. Als ihn jedoch die Fliehkräfte seiner eigenen geistigen Verzweiflung und Gefangenschaft durch die Wand katapultierten, kommentierten Mathilde Bundschuh und Sibylle Canonica, die nicht unbeteiligt an diesem Unfall waren, die Szene mit einer gemeinsamen Zigarette, quasi die Zigarette danach.
Die fortwährend tippelnde Ulrike Willenbacher im grauen Dirndl mit Rucksack, war hingegen überwiegend auf der Flucht, insbesondere vor den peinlichen, oder peinlich empfundenen Eskapaden ihres Ehemanns, gespielt von Thomas Huber. Sie hatte als Frau längst die höhere Entwicklungsstufe erlangt, war gänzlich Ehefrau. Die vergleichsweise wenigen dramatischen Szenen im Fluss von scheinbar bezugslosen Auslassungen und Monologen wirkten geradezu brachial. Zum Beispiel als, für das Publikum unsichtbar, ein deutscher Hirsch aus dem deutschen Unterholz brach und in Dolby Surround die Szene umkreiste. Das hatte etwas von der Bedrohlichkeit Godzillas. Tatsächlich kam dieser Hirsch auf der deutschen Landstraße durch ein Automobil, wie im Animationsfilm gezeigt, zu Tode. Yannik Stöbener erschien, leuchtend blutüberströmt und eine gute deutsche Leitplanke schleppend, zuletzt zu seinem Abgesang.
Es war ein wunderbarer und beeindruckender Theaterabend, den die Macher um Matthias Rippert dem Publikum bescherten. Es war aber auch eine (beinahe unmögliche) intellektuelle Herausforderung, die Fülle der Texte aufzunehmen und zeitnah zu verarbeiten. Der Inszenierung war es unbedingt zu danken, dass über das konkrete Wort hinaus die Pose des „Romantikers“ auf zum Teil sehr komische Weise ausgestellt und somit ein Grundgefühl für die Situation ermöglicht wurde. Dabei tauchten immer wieder Wörter auf, die heute einen hohen Reizfaktor haben. Immerhin handelte es sich um kanonisierte Texte, die nicht auf die heutige Situation geschrieben worden sind. Sie sind zwar von Elfriede Jelinek „überschrieben“ worden, doch nur, um das Wesentliche in ihnen an die Oberfläche zu heben. Dass sich die heutige Realität mit ihren ganz konkreten Stigmata in diesen Texten wiederfindet, zeigt einmal mehr, woher das heutige Denken kommt, wie weit es in die Vergangenheit zurückreicht. Und die Vergangenheiten waren nicht unbedingt die glorreichsten.
Wolf Banitzki
Wolken.Heim.
von Elfriede Jelinek
Mit Mathilde Bundschuh, Sibylle Canonica, Thomas Huber, Yannik Stöbener, Ulrike Willenbacher Regie: Matthias Rippert |