Marstall  Sinn von Anja Hilling


 

Geballte Jugendpower

Es geht in „Sinn“ von Anja Hilling nicht um die Frage, ob etwas Sinn macht, sondern um die konkreten Sinne, mit denen Erfahrungen gemacht werden. So muss Phöbe erfahren, wie es sich anfühlt, plötzlich von einem Jungen umschwärmt zu werden, der blind ist: „Ich bin in seinen Augenhöhlen gewesen …“ Tommi redet mit seinem toten Freund Karl, als wären sie zwei beste Freunde. Und das waren sie auch, haben eine Menge miteinander geteilt. Zum Beispiel die Liebe zur griechischen Bäckersfrau. Dann trat Jasmin in beider Leben und Tommi verliebte sich unsterblich in sie. Doch sie hatte nur Augen für Karl, der: „Hat seine Nase in sie gesteckt …“

Jasmin, die Karl auch 10 Monate nach seinem Tod noch SMS schreibt, begegnet Jule, die ihr das Handy entreißt. Es kommt zu Berührungen mit dem Mädchen, das nach Problemen aussieht: „Ihre Knochen glühen.“ Natascha trifft auf den Streber und Sonderling Albert. Im Schwimmbad hört sie die Bewegungen seiner Füße und ist fasziniert: „Ein Fußkonzert. Leise und schön.“ Laurent fällt aus einer Hecke, Beate direkt vor die Füße. Wie weit wird diese Begegnung die beiden bringen? Er kocht für sie und sie verbrennt sich daran die Zunge. Dann ist Laurent plötzlich spurlos verschwunden. Alles wäre möglich gewesen, allerdings nicht unbedingt sinnvoll, wie Beate resümiert.

Anja Hillings Stück mit den „fünf Erfahrungen“ spiegelt das Gefühlsleben und die emotionalen Turbulenzen von Teens, wie wir sie beispielsweise aus „Frühlingserwachen“ kennen, wider. Doch jede Generation ist anders, geht anders mit dem Erwachen der Geschlechtlichkeit um. Heute führt es die Kids allerdings nicht in gesellschaftliche Tabuzonen, die existenzielle Bedrohungen darstellen, was doch immerhin als sichtbarer Erfolg für die gesellschaftliche Entwicklung zu werten ist. „Werther“ wird zwar zitiert, doch bleibt er nur Literaturgeschichte und löst keine Selbstmordwelle aus wie zur Zeit seiner Entstehung. Die heutige Jugend geht unbefangen und selbstbewusst mit ihrem Gefühlsleben um, was allerdings nicht bedeutet, dass es weniger anstrengend ist. Soviel vorweg, der Text scheint wirklich den Nerv der jungen Generation getroffen zu haben, wie die Reaktion des vornehmlich jungen Publikums bewies.

Aber auch die Inszenierung vom Regieteam Raphaela van Bommel, Anna Horn und Anja Sczilinski traf augenscheinlich ins Schwarze. Wer behauptet, die Jugendlichen haben heutigen tags durch die mediale Reizüberflutung vergleichsweise nur noch eine Aufmerksamkeitsspanne von Fruchtfliegen, der wurde in der ca. zweistündigen Inszenierung deutlich eines Besseren belehrt. Man war dran, ging mit und fühlte sich ganz direkt angesprochen. Und man war am Ende begeistert, hatte doch das Theater bestens unterhalten und sich gleichsam um jugendliche Themen gekümmert, was selten genug vorkommt.

  Sinn  
 

Katharina Wutta, Lilith Kampffmeyer, Lisa Zollner, Anna Maria Köllner, Manuel Mittelbach, Doğukan Tüfeskever, Constanze Schön, Mira Schrems, Luca Kronast-Reichert, Camilla Hitzler

© Konrad Fersterer

 

Auch ästhetisch war die Inszenierung alles andere als fade. Die Regie setzte auf körperliche Aktion und so wirbelte das Ensemble, bestehend aus achtunddreißig Darstellern permanent durch den gesamten Raum der Marstallbühne. Bühnenbildner Peter N. Schultze hatte diesen mit beweglichen U-förmigen schwarzen Elementen ausgestattet, die ausreichten, um unterschiedlichste Raumsituationen zu schaffen. Die Darsteller waren sämtlich in weiß gekleidet und mit farbigen Streifen den entsprechenden Handlungslinien zugeordnet, wie man es von den Plänen aus städtischen Bussen oder Bahnen kennt. Eine wunderbare Idee der Kostümbildnerin Silke Messemer.

Es wurde getanzt, ausgelassen getobt und gekämpft. Es gab leise und poetische Momente der Zweisamkeit, aber auch kraftvolle Märsche oder zyklonartige Massenwirbel. Es wurde gesungen, getrommelt, rhythmisiert à la „Stomp“ oder auch gerappt (Choreographie Annerose Schmidt). Die meisten Texte wurden chorisch gesprochen und jede Hauptrolle wurde von unterschiedlichen Darstellern gestaltet. Dennoch war es nicht über die Maßen schwierig, den Überblick zu behalten, denn sowohl die Sprechkultur als auch die körperliche Umsetzung waren angesichts der Tatsache, dass es sich nicht um ausgebildete Schauspieler handelte, erstaunlich professionell und präzise.

Wenn überhaupt, dann war der Beginn des Stückes voraussehbar. Man wurde in einen Partyraum eingelassen, in dem die Wogen bereits hoch schlugen (Musik Kilian Unger), und mit dem üblichen Stempel auf den Handrücken versehen. Immerhin tanzten die jungen Darsteller schon vor Beginn der Vorstellung durch das Foyer. Das war es dann aber auch schon mit vorhersehbaren Gemeinplätzen. Was dann kam, war ästhetisch höchst anspruchsvoll, gut durchdacht und gänzlich ohne Längen umgesetzt. Chapeau an alle Beteiligten!

Und auch Chapeau an das Residenztheater, dass in der Ära Martin Kušej mit „Junges Resi“, aber auch mit „Marstall Plan“ seiner Verantwortung gegenüber der Jugend, sowohl auf der Bühne als auch vor der Bühne, und auch gegenüber jungen Regisseuren, gerecht wurde. Das bescherte uns wunderbare theatrale Kleinodien. Als Staatstheater kann man leicht auf solche Konzepte verzichten, ohne dass einem daraus unbedingt ein Vorwurf erwächst, steht man doch schließlich im Dienst der „hohen Kunst“. Der Abend zeigte einmal mehr, wie leicht und schön es sein kann, junge Leute für das Theater zu begeistern und dieser Aufgabe sollte sich eigentlich jedes Theater stellen, angesichts der Tatsache, dass das Durchschnittsalter der Theatergänger knapp unter 60 Jahre liegt.

Wolf Banitzki

 


Sinn

von Anja Hilling

Mit: Pia Amofa, Miriam Bauta, Anouk Barakat, Cedric Carr, Alireza Ekhlasi, Michelle Entesperger, Emilie Fleury, Lisbet Hampe, Camilla Hitzler, Jonas Holdenrieder, Luisa Jung, Emil Kafitz, Lilith Kampffmeyer, Anna Maria Köllner, Maria-Luise Kostopoulos, Janosch Krieger, Luca Kronast-Reichert, Konrad Lohse, Dswinka Martschenko, Elisabeth Maslik, Lilian Mikorey, Manuel Mittelbach, Eileen Pagels, David Pförtsch, Lena Praßler, Nadja Sabersky, Constanze Schön, Marjatta Schramm, Mira Schrems, Sophia Julia Schützinger, Johanna Singer, Claus Michael Six, Dalila Toscanelli, Doğukan Tüfeksever, Antonia Vasilache, Emil Vorbrugg, Elisa Wenz, Katharina Wutta, Lisa Zollner

Regie: Raphaela van Bommel, Anna Horn, Anja Sczilinski
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