Marstall UA Olympiapark in the Dark von Thom Luz


 

Großes Theater in kleinem Rahmen

„Steh zu deiner Dissonanz, Mann!“ Diesen Satz sagte ein Mann, der getrost in der Nähe von musikalischer Genialität angesiedelt werden kann. Sein Name war Charles Edward Ives und er lebte von 1874 bis 1954. Der Regisseur Thom Luz brachte nun ein Werk auf die Bühne des Marstalls, das wesentlich von dem Werk „Central Park in the Dark“, komponiert von Charles Ives im Jahr 1906, inspiriert wurde. Um Luzs Arbeit (und das Werk von Ives) besser verstehen zu können, der Genuss derselben käme auch ohne aus, sollen ein paar Worte über den amerikanischen Komponisten verloren werden. Charles Ives entstammte einer erfolgreichen Unternehmerfamilie. Einzig sein Vater schlug aus der Art. Er begnügte sich mit dem Job eines Schalterbeamten in der familieneigenen Bank. In seiner Freizeit allerdings beschäftigte er sich mit Klangexperimenten, die für damalige Zeiten recht sonderlich anmuten mussten.

Der junge Charles wurde schon in sehr jungen Jahren in die Klangwelten des Vaters einbezogen und bereits als Teenager komponierte er Tanzmelodien und Kirchenlieder. Er wurde mit vierzehn Jahren der jüngste Organist von Connecticut. Die Zeiten waren nicht günstig für Menschen, die sich für die klassische Musik entschieden. Es galt als äußerst unmännlich. Der Beruf des Versicherungsvertreters hingegen nicht, und so baute Ives gemeinsam mit dem Freund Julian Myrick in New York eine Lebensversicherungsgesellschaft auf, die völlig neuen Konzepten folgte. Er revolutionierte die Branche und seine Konzepte sind heute noch immer Grundlagen des Versicherungswesens. Es war nicht irgendeine Gesellschaft, es war seinerzeit die größte mit einem Börsenwert von bis zu zwölf Milliarden Dollar. Doch es war nicht einfach nur Broterwerb für Charles Ives, sondern ein weiteres Forschungsfeld bei der Ergründung der Existenz, etwas, was seiner Musik gleichsam innewohnte.

Er bemühte sich, in seiner Musik die reale, die alltägliche Welt wiederzugeben und so finden sich in seinen Kompositionen alle nur denkbaren Alltagsgeräusche wieder. Seine Kreativität war bahnbrechend. So ist seine 4. Symphonie ein wüstes Klangpanorama, seine unvollendete „Universe Symphonie“ hatte er für den Raum im Freien komponiert und „The Unanswered Question“, ein philosophisches Schlüsselwerk von Ives, sprengte den Konzertsaal und verbannte Musiker sogar hinter die Bühne. Obgleich Ives heute als der erste amerikanische Komponist der Neuzeit gilt, war er weit mehr als das. Er war ein universaler Geist, für den der Klang ein wesentlicher Bestandteil der Existenz war.

  Olympiapark in the Dark  
 

v.l. Barbara Melzl, Mareike Beykirch, Mara Miribung, Christoph Franken

© Sandra Then

 

Dass er lange Zeit verkannt wurde, lag in erster Linie daran, dass er seiner Zeit in Vielem, vor allem aber in der Musik, weit voraus war. Als man endlich dahinter kam, wie wertvoll sein Beitrag zur Musik war, verlieh man ihm 1946 den Pulitzerpreis. Er lehnte ihn, wie die vielen anderen Preise auch, mit den Worten ab: „Preise sind ein Merkmal von Mittelmäßigkeit. Sie interessieren mich nicht.“

Er brauchte die Bestätigung für seine künstlerische Leistung nicht; er lief vor dem Ruhm geradezu davon. Charles Ives vertrat die Ansicht: „Wenn der Künstler alles, was er an Vollkommenheit im Leben sieht, aufrichtig und intuitiv in seinem Werk wiedergibt, wird auch dieses Werk letztendlich vollkommen sein. Ob er anerkannt ist oder abgelehnt wird, ob seine Musik gespielt wird oder nicht, er allein entscheidet, ob es wahr oder unwahr ist.“

In seinem Werk „Central Park in the Dark“ gab er die Klangkulisse wieder, die ein nächtlicher Spaziergänger, wenn er denn sensibel und aufmerksam genug ist, hören kann. Dabei bediente er sich der „vertikalen Komposition“, einer Technik, in der die Klänge sich überlagern und nicht aneinander gereiht in Abfolge erklingen. Thom Luz transponierte diese Idee auf den Münchner Olympiapark und schuf ein scheinbar chaotisches Spiel- und Klangkonstrukt, das eingangs vorgibt, eine Stunde vor der Aufführung des musikalischen Werkes zu beginnen.

Die Musiker bereiten sich auf diese Aufführung vor, spielen einige Takte an, verstummen, diskutieren, lauschen. Zwischendrin werden Geschichten erzählt, wissenswerte Fakten aus der Münchner Musikgeschichte, beispielsweise, wie viel Geld Orlando di Lasso mit jeder einzelnen von ihm komponierten Note verdient hat. Und viele Geschichten werden mit Dezibelangaben ausgestattet, wie die Lautstärke des übenden Albert aus der Familie der Einsteins. Oder aber die Dauer eines Tor-Schreis im Olympiastadion bis zur Ankunft am Mittelmeer. Man gönnt sich aber auch Abschweifungen und gräbt in Südtirol einen bei einem Moränenabgang verschütteten Bus aus, in dem … Viele der Geschichten sind mit Klängen verbunden, die dann dauerhaft den Raum bevölkern, wiederkehren und die Darsteller, sowie das Publikum gespannt aufhorchen lassen. Die eineinhalbstündige Vorstellung ist angereichert mit kuriosen und komischen Geschichten, die aber durchaus auch Wissen liefern. Man erfährt immerhin, welche Gemeinsamkeiten das Bettnässen und das Violaspiel haben.

Schließlich fand dann der angekündigte Spaziergang durch den Olympiapark statt und die Musiker, in einem Video von Jonas Alsleben auf ihrem Marsch zu sehen, verwandelten sich selbst in Klänge. (Musikalische Leitung Mathias Weibel) In diesem Augenblick begriff man umfänglich, was das Wesen der Ivesschen Kunst war und man genoss, denn immer neue Quellen von Geräuschen kamen hinzu wie Jogger oder Fahrradfahrer. Es macht übrigens auch einen Unterschied, ob man den Olympiahügel hinauf oder herunter stapft, ob man vom Weg abkommt oder seinen Hut verliert.

Es ist schier unmöglich, eine Beschreibung der Vorstellung zu liefern, weil es ein so vielschichtiges, zum Teil irrsinnig komisches und dabei hochartifizielles Konstrukt ist, das in der Form nur durch sich selbst wiedergegeben werden kann. Zahllose Paradoxa werfen Fragen auf. Das komödiantische wie auch musikalische Spiel der Darsteller war so fesselnd, dass man sich ähnlich zu fühlen begann wie Alice, die in einen Kaninchenbau gefallen und so ins Wunderland gelangt war.

Thom Luz und seinen wunderbaren Darstellern gelang es tatsächlich, begreifbar zu machen, dass das Universum bereits in unserem Alltag beginnen kann, wenn wir nur zu hören in der Lage sind. Und er vermittelt eine Erkenntnis von Charles Ives, die uns banal erscheinen mag, die aber von existenzieller Bedeutung ist, nämlich, dass die Frage weit wichtiger als die Antwort ist. Denn nur die Frage kann uns weiterbringen. Die Antwort macht träge und verleitet zur Untätigkeit. Und noch eine Erkenntnis wurde vermittelt, nämlich dass der Klang größer und bedeutender ist, als die Musik. Charles Ives, der über Chopin sagte, er habe nette Melodien gespielt, ging sogar noch weiter und rief aus: „Mein Gott, was hat Klang mit Musik zu tun!“

Jedem neugierigen, für unerhörte Erkenntnisse aufgeschlossenen, der Komik nicht abgeneigten Mitbürger sei diese Inszenierung unbedingt und dringend anempfohlen. Hier fand in kleinem Rahmen wahrhaft großes Theater statt.

Wolf Banitzki

 

 


UA Olympiapark in the Dark

Bild in Klängen von Thom Luz nach einer Komposition von Charles Ives

Mit: Mareike Beykirch, Elias Eilinghoff, Christoph Franken, Camill Jammal, Barbara Melzl, Mara Miribung, Daniele Pintaudi, Noah Saavedra

Inszenierung, Bühne und Licht: Thom Luz