Theater im Marstall Gesäubert von Sarah Kane


 

 

Über die selbstreinigenden Mechanismen der Guten Gesellschaft

Meine erste Begegnung mit einem Stück von Sarah Kane fand in den frühen 90ern in der Baracke des Deutschen Theaters Berlin statt. Ich wurde Zeuge einer Szene an der Theaterkasse, die mich sehr nachdenklich machte. Ein Mann fortgeschrittenen Alters fragte die Dame an der Kasse: "Das ist doch das Stück, in dem sich die Schauspieler ausziehen." Die Kassiererin: "Ja, aber das Stück fällt heute leider aus. Dafür spielen wir ..." Der Mann hielt kurz inne: "Ziehen sich die Schauspieler in diesem Stück auch aus?" Die Kassiererin dachte ein Weilchen nach und entgegnete: "Nein, ich glaube nicht. Möchten Sie eine Karte?" "Nein, Danke", entgegnete der Mann kopfschüttelnd und ging.

Sarah Kane, Suizidopfer ihrer eigenen Drogen- und auch Lebenssucht, verbrannte am Leben. Dieses Verbrennen hat sie dokumentiert und die Qualität ihrer Texte liegt nicht unbedingt in der dramaturgischen oder sprachlichen Gestaltung, sondern in der kompromisslosen Authentizität. "Gesäubert" meint, was es sagt. Die neoliberale Gesellschaft, in der humanistische Werte und Gefühle höchstens noch für Werbespots taugen, entledigt sich all derer, die nicht funktionieren, die die Liebe zu einem Menschen höher schätzen als Job und Karriere, und die bereit sind, endgültige Versprechen abzugeben. Es geht um die tiefe Sehnsucht nach erfüllter Liebe und liebevoller Bezogenheit, die höchstens noch in den kurzen Momenten nach dem Schuss Heroin stattfindet, die in der Realität zu Asche wird.
 
   
 

Herbert Schäfer, Franz Josef Strohmeier, Christian Higer

© Thomas Dashuber

 

 

In Andreas Wiedermanns Inszenierung im Marstall rieselte diese Asche permanent aus dem Bühnenboden. Die erste Asche war die des Fixers Graham, wuchtig und sensibel zugleich von Georg Hobmeier gestaltet. Tinker, Herbert Schäfer gab ihn mit erstaunlich zwingender Präsenz, hatte Graham als Dealer den goldenen Schuss gesetzt und ordnete als Anstaltsleiter sein Einäscherung an. Der Feind fiel in einer Person zusammen. Tinker ein leidenschaftsloser Mensch, der über Masturbation und sehnsuchtsvolle Ansätze kaum hinauskam, verkörperte die gesellschaftliche Exekutive. Er gab sich als ein Mann mit scharfem Verstand und perversen tyrannischen Gelüsten. So war die Sicht Sarah Kanes auf die Realität. Und sie wusste, worüber sie schrieb.

In diese Situation hinein geriet Grace. Sie war die Schwester Grahams und forderte in der Anstalt die letzten Überbleibsel ein. Nicole Lohfink offenbarte mit engagiertem Spiel eine beachtliche Palette schauspielerischer Farben. Die verbliebenen Kleidungsstücke Grahams waren inzwischen an Robin übergegangen. Jörg Malchow verlieh Robin, der ein lebensunfähiger, auf seine Mutter bezogener, verstörter Junge war, einen von seelischen Qualen gepeinigten anrührenden Habitus. Robin, der in Grace das menschliche Wesen erblickte, fühlte sich von der jungen Frau bis zu seiner Auslöschung hin liebevoll angezogen. Doch Grace war nur auf den toten Bruder fixiert, mit dem sie eine inzestuöse Beziehung verband. Am Ende, in den Kleidern Grahams und ausgestattet mit einem angenähten Penis, wurde sie zu diesem.

Nebenher plädierten Carl und Rod, ein schwules Paar, für die Verbindlichkeit von Liebe. Auch sie wurden am Ende ausgelöscht, doch auf dem Weg dorthin, stets unter Begleitung martialischer Verstümmelungen durch Tinker, hinterließen sie ein geradezu heroisches Bild von einem liebenden Paar. Franz Josef Strohmeier, er büßte als Carl Zunge und Gliedmaßen ein, überzeugte als naiv täppischer Liebender, dem immer auch Verliebtheit ins Antlitz geschrieben stand. Christian Higer, der den älteren und abgeklärteren Rod spielte, blieb lange Zeit ziemlich unauffällig. Erst als Rod mit seiner eigenen Auslöschung die seines Geliebten zu verhindern suchte, entfaltete diese Rolle ihre menschliche Schönheit. Einzig Susanne Meyer hatte relativ wenig an die Hand bekommen, um ihrer Rolle als Frau Nachhaltigkeit zu verleihen. Als Projektionsfläche für die sexuellen Begierden Tinkers fiel ihr der Part einer knapp bekleideten Gogo-Tänzerin zu.

Andreas Wiedermann hatte den wie einen Drogentrip anmutenden Text behutsam und langsam inszeniert. Damit gab er den Darstellern und der z.T. sehr verwirrenden Geschichte hinreichend Raum, den Zuschauer zu infiltrieren. Er ist bekannt, dass die von Brutalität strotzenden Texte Sarah Kanes drastische Umsetzungen provozieren. Wiedermanns Inszenierung vermied Peinlichkeiten und auch terroristische Bilder. Über die Tatsache, dass sich alle Darsteller im Verlauf der Handlung völlig entblößen mussten, mag man streiten. Ein Urteil könnte sein, dass die seelische Entblößung die körperliche einforderte und zugleich in den Hintergrund treten ließ. Für die Geschlossenheit der Inszenierung stand auch das Bühnenbild von Violaine Thel, ein brüchiger und von Verfall gezeichneter Fliesenboden. Die Metaphorik war leicht zu entschlüsseln. Bemerkenswert auch die Lichtregie von Urs Schönebaum. Unmerklich und doch deutlich verlieh sie dem Spielraum zwingende Magie.

Das Konzept des Residenz Theaters, noch jungen hochmotivierten und weitestgehend unbekannten Schauspielern eine Bühne zu geben, geht nicht immer auf, doch immer öfter. Vermutlich wird sich nach einiger Zeit auch der oben zitierte voyeuristische Zeitgenosse einfinden. Doch genießen wird er es nicht können, soweit noch ein wenig menschliche Gefühlswelt in ihm ist.

Wolf Banitzki

 

 

 


Gesäubert

von Sarah Kane

Nicole Lohfink, Susanne Meyer, Christian Higer, Georg Hobmeier, Jörg Malchow, Herbert Schäfer, Franz Josef Strohmeier

Regie: Andreas Wiedermann

 
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