Metropoltheater Terror von Ferdinand von Schirach
Die Grablegung Immanuel Kants
„Terror“ von Ferdinand von Schirach war nach „Abgesoffen“ von Carlos Eugenio López die zweite Arbeit in einer Trilogie zu brisanten Themen der Zeit. Damit ist auch Jochen Schölch angekommen in der Diskurskultur, die die Theater virulent zu befallen scheinen. Allein, Jochen Schölch gibt das Theater ästhetisch nicht auf, auch, wenn „Terror“ erst einmal an die täglich über die Bildschirme privater Sender flimmernden Doku-Soaps erinnert. Selbst unter diesen Prämissen gelang Schölch faszinierendes und fesselndes Theater. Dabei musste er auf sein Handwerk als Magier weitestgehend verzichten, denn dieses Stück galt der „praktischen“ Vernunft und nicht der Vernunft mittels ästhetischer Verführung, für die er wie kaum ein anderer Theatermacher Münchens steht. Das Publikum erlebte über eine Stunde und vierzig Minuten hinweg bestes Schauspiel.
Ferdinand von Schirach, Anwalt und, bei aller Bescheidenheit, auch Rechtsgelehrter, treibt es schon seit einigen Jahren mit nicht unerheblichem Erfolg in den Medien um, der breiten Bevölkerung ein gesundes Rechtsempfinden (im besten Sinn des Wortes) nahe zu bringen. Mit „Terror“ trifft er einen inzwischen schmerzenden Nerv der Zeit. In einem fingierten Prozess steht ein deutscher Kampfpilot wegen 164fachen Mordes vor Gericht. Der Mann hat nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt und mit dem Abschuss einer von einem Terroristen entführten Passagiermaschine 164 Menschen zu Tode gebracht. Der Pilot hat gegen den Befehl seiner Vorgesetzten und gegen geltendes Grundrecht gehandelt. Er begründete seine Entscheidung mit der Rettung vieltausend anderer Menschen, die, in der Allianz-Arena befindlich, das eigentliche Ziel des Terroristen waren. Er hat den 164 Flugpassagieren die 70.000 Besucher eines Fußballländerspiels gegenüber gestellt und eine Gewissensentscheidung gefällt.
Im Verlauf der Theaterinszenierung wurden die Fakten akribisch dargestellt, der Angeklagte und Zeugen einer detaillierten Befragung unterzogen. Über das Schauspiel offenbarten sich zudem wesentliche Facetten der Persönlichkeiten des Angeklagten und der Zeugen. Ohne weitere Details aufzulisten kann gesagt werden, dass es in diesem Verfahren nicht um einen gemeinen Mörder ging, der eine kriminelle Tat begangen hatte, sondern um einen mehr als vorbildlichen Soldaten, der „im Dienst am deutschen Volk“ großen Schaden von selbigem abwenden wollte und in einer Gewissensentscheidung das „geringere Übel“ wählte.
Infolge der Attentate vom 11. September 2001erließ das deutsche Parlament im Jahr 2005 ein Gesetz zur Luftsicherheit, in dem dem Minister für Verteidigung in Extremfällen eine Abschussermächtigung entführter Flugzeuge zugebilligt wurde. Das Bundesverfassungsgericht erklärte diese Abschussermächtigung als unvereinbar mit dem Grundgesetz und hob den betreffenden Paragrafen im darauffolgenden Jahr wieder auf. In der Befragung des Piloten wurde deutlich, dass er, sowie viele Angehörige der Luftwaffe mit der Rücknahme dieser Ermächtigung nicht einverstanden waren, stellte sie doch ihren (vermeintlichen) Kampfauftrag infrage. Christoph von Friedl gab einen vor Selbstdisziplin geradezu stocksteifen, verantwortungsbewussten und aufopferungsvollen Soldaten, der dennoch nicht frei von Emphase war. In seiner Mimik spiegelte sich seine ganze tobende Zerrissenheit, als Nathalie Schott hochemotional in der Rolle einer Nebenklägerin ihr Leid über den Verlust ihres Ehemannes, Passagier in der abgeschossenen Maschine, klagte. Hubert Schedlbauer stellte in der Rolle des während des Zwischenfalls verantwortlichen Offiziers einen Wesenszug von Militär an sich bloß. Entscheidungen außerhalb des Dienstreglements führen schnell zu Verwirrungen und Unsicherheiten. Allem Militärischen wohnt eben doch eine unerschütterliche Stupidität inne.
Matthias Grundig, Dasche von Waberer, Christoph von Friedl © Hilda Lobinger |
Nach Abschluss der Beweisaufnahme hielten die beiden Anwälte ihre Plädoyers. Der Staatsanwalt, sehr eindringlich, mit enormer physischer Präsenz und rhetorisch bestechend gespielt von Matthias Grundig, verwies darauf, dass dem deutschen Grundgesetz ein unverhandelbares Prinzip zugrunde liegt, nämlich: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Eine Verdinglichung der Menschen in dem Sinn, dass man sie zahlenmäßig gegeneinander aufrechnen kann, sowie die kalkulierte Tötung sind mit diesem Prinzip nicht vereinbar. Dieses Ergebnis ist eine mit unbeschreiblichen Leiden in der Menschheitsgeschichte bezahlte Einsicht. Entwickelt und niedergelegt hat diese Idee Immanuel Kant als „kategorischen Imperativ“ in seinem Werk „Kritik der praktischen Vernunft“. Der Imperativ lautet verkürzt: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Die Rücknahme der Abschussermächtigung war ein Akt der Vernunft, der dazu führte, dass der Terrorist ein gemeiner Mörder bleibt und nicht durch gleichgeartete Gegenwehr zum politischen Gegner auf Augenhöhe wird.
Butz Buse plädierte als Anwalt des Piloten für Freispruch, weil sein Mandant eine Entscheidung gefällt hatte, die (möglicherweise) vielen Menschen das Leben rettete. Er verwies dabei auf die Integrität des Piloten, der nicht eigennützig, sondern im Sinn der Gesellschaft geradezu heldenhaft gehandelt hatte, bereit, die Konsequenzen seines Handelns zu tragen. Buse, bei weitem nicht mir der Überzeugungskraft des Staatsanwaltes ausgestattet, weil die Argumente mehr auf die Moral und auf das Mitgefühl zielten, beschwor, wie im angloamerikanischen Raum üblich, Vergleichsfälle. Das dort praktizierte Kasus-Recht erzeugt Recht durch das Zitat von bereits gesprochenem Recht in ähnlichen Fällen. Dabei ging Buses Anwalt weit zurück in der Geschichte und zitierte Fälle, in denen mehrere oder viele Menschen durch die Entscheidung einzelner gerettet wurden, weil diese wenige Menschen opferten. Hier schimmerte nicht selten das Bild vom Recht des Stärkeren durch, allein legitimiert durch die Fähigkeit, (moralisch legitimierte) Entscheidungen zu treffen. Diese Haltung führt, wie bekannt, zu Feststellungen wie: Gegen die Waffe in der Hand eines Bösen hilft nur die Waffe in der Hand eines Guten. Eigentlich sollte der barbarische Zug dieses Naturgesetzverständnisses unübersehbar sein und arge Zweifel an der Richtigkeit erzeugen. Weit gefehlt, wie der Abend im Metropoltheater verdeutlichte.
Nach einer Stunde und vierzig Minuten beendete die Richterin, sehr überzeugend in Habit und im Habitus einer Vorsitzenden von Dascha von Waberer gespielt, den Prozess und überließ die Urteilsfindung dem Publikum. Nach einer zwanzigminütigen Pause votierten die Zuschauer im „Hammelsprungverfahren“ über schuldig oder Freispruch des Angeklagten. Das Ergebnis in der Premierenvorstellung war mehr als erstaunlich. Moral wurde über das Gesetz erhoben und Mitgefühl dominierte in der Rechtsprechung. Mit 103 zu 97 Stimmen wurde der Angeklagte freigesprochen. Sollte dieses Ergebnis Ausdruck der gesellschaftlichen Zustände sein, hätte der Rechtsstaat und das Grundgesetz seine Gültig- und Verbindlichkeit bereits eingebüßt. Dieses Ergebnis war die Grablegung Immanuel Kants, das desaströse Ende der Aufklärung und ein Rückfall in Zeiten der alttestamentarischen Rechtsprechung. Und während die emotionalen Wogen (bei mir) noch hochschlugen, berichtete auch schon das Autoradio von Übergriffen „moralisch besorgter Bürger“, aber auch der Polizei, auf zwanzig Asylanten im sächsischen Clausnitz. Es wäre vielleicht angebracht, dass das Metropoltheater die nachfolgenden Abstimmungsergebnisse auf der Website öffentlich macht. Es wäre durchaus ein Gradmesser und Jochen Schölchs gelungenes Experiment hätte „Nachhaltigkeit“.
Ferdinand von Schirach, unbestritten ein kluger und lebenserfahrener Mann, wäre mit diesem Abstimmungsergebnis wohl nicht einverstanden gewesen. Immerhin musste Dascha von Waberer als Richterin das Urteil begründen. Das fiel ihr (oder Ferdinand von Schirach) sichtlich schwer. Die Begründung war sehr dürftig und verwies letztlich darauf, dass sich auch Gesetze bewähren müssen. Hier wäre es angesichts der Argumentation nicht wirklich schwer gewesen, die Vernunft (im Kantschen Sinn) walten zu lassen. Was macht einen Terroristen schließlich zu einem verabscheuungswürdigen Menschen? Es ist die Bereitschaft, andere Menschen aus moralischen Gründen töten zu wollen und zu können. Worin unterscheidet sich ein Offizier, wenn er aus ebenso moralischen Gründen das Gleiche tut? Nur die kategorische Einhaltung eines vernünftigen Prinzips kann es verhindern, schuldig zu werden, und wenn sich diese Einsicht durchsetzt, gibt es eine Chance, dass das Töten (eine verlässliche Konstante in der Geschichte der Menschheit) irgendwann ein Ende findet.
Ferdinand von Schirach gab dazu ein fast beschwörendes Statement ab: „Ich glaube an den gelassenen Geist unserer Verfassung, an ihre souveräne Toleranz und ihr freundliches Menschenbild. Es gibt keine Alternativen, wenn wir als freie Gesellschaft überleben wollen.“
Wolf Banitzki
Terror
von Ferdinand von Schirach
Butz Buse, Matthias Grundig, Hubert Schedlbauer, Nathalie Schott, Christoph von Friedl, Dascha von Waberer Regie: Jochen Schölch |