Metropoltheater Die letzte Karawanserei von Ariane Mnouchkine
Großes Gefühlstheater
„Die Unfälle, die Sklaverei, das Unglück der Nationen zieht vorbei wie die Karawane auf den Straßen.“ So beschrieb Ariane Mnouchkine den Zustand dieser Welt und der hat sich seit der Uraufführung am Théâtre du Soleil 2003 (2006 verfilmt) keineswegs verbessert. Über zwei Jahre hinweg hat die Regisseurin mehr als vierhundert Flüchtlinge interviewt. Die Begründerin des Théâtre du Soleil entstammt selbst einer russischen Immigrantenfamilie. Ihr Vater war der Filmproduzent Alexandre Mnouchkine. Mit „Die letzte Karawanserei“ bemühte sie noch einmal das Genre des Dokumentartheaters. Das ist nicht ganz unproblematisch, denn die unkommentierten Szenen schlagen sehr holzschnittartig zu Buche. Doch, wie schon die Naturalisten, konnte Ariane Mnouchkine auf die Drastik der Realität bauen, die 2003 und jetzt schon gar nicht mehr zu überbieten ist. Menschliches Elend allenthalben und unsere Inseln der Glückseligkeit schrumpfen wie die Schollen des arktischen Eises, denn die „Elenden“ kommen massenhaft zu Land und zu Wasser.
Wenn es in der Menschheitsgeschichte häufig nur einen oder wenige konkrete Auslöser für die Wanderung einer oder mehrerer Ethnien gab, so sind die zwingenden Gründe heute deutlich vielfältiger. Neben Naturkatastrophen wie Überschwemmungen oder große, Jahre anhaltender Dürreperioden sind Diktaturen, individueller und organisierter Terror und Bürgerkriege an der Tagesordnung. Die relative Verlässlichkeit politischer Mechanismen in der Weltgemeinschaft ist längst dahin. Krisenverwaltung hat Krisenprävention oder –bekämpfung längst abgelöst. Nationale Egoismen bestimmen die Agenda des Handelns, oder besser, des Nichthandelns. Kaum ein Land, das von all dem nicht mehr betroffen ist. Die obligatorische Weltuntergangsstimmung, wie wir sie zyklisch notiert aus der Geschichte kennen, wird nicht ausbleiben. Einzig die anpassungsfähigen Neoliberalen machen ungerührt weiter, denn auch an Krisen lässt sich gut Geld verdienen.
Patrick Nellessen, Vanessa Eckart © Jean-Marc Turmes |
Jochen Schölchs Inszenierung startete furios. Flüchtlinge setzen mittels einer Gondel über einen reißenden Fluss über. (Video: Daniel Holzberg) Dabei müssen sie alle Kräfte aufwenden, um den Naturgewalten nicht zu unterliegen. Es gibt keine Alternative: „Lieber ertrinke ich in diesem Wasser als in meinen Tränen.“ Im Auffanglager Sangatte, 2002 saßen dort 2000 Flüchtlinge aus 55 Nationen fest, richten sich alle Blicke sehnsüchtig nach Norden. Bei gutem Wetter kann man die Kreidefelsen von Dover sehen. Der serbische Schleuser Yosco (Patrick Nellesen) kassiert an einem Loch im Zaun zu den Gleisen ab. Die Konkurrenz sitzt ihm bereits im Nacken. Der russische Schleuser Mischa (James Newton) nutzt die erstbeste Gelegenheit, um Yosco zu töten und das Geschäft zu übernehmen. Der kurdische Flüchtling Timur kassiert von den Russinnen Claudia (Dascha von Waberer) und Olja (Sophie Rogall), die mittels Prostitution ihre Schleusung nach England bezahlen wollen. Im Land der Verheißung angelangt, werden die Pässe von den Schleusern eingezogen und die Frauen landen umgehend auf dem Straßenstrich, wo sie ihre „Schulden“ abarbeiten müssen. In Afghanistan verlieben sich Fahwad (James Newton) und Azadeh (Vanessa Eckart) ineinander. Die Liebe ist in den Augen der radikalen Taliban (Hubert Schedlbauer, Patrick Nellessen, Marc-Philipp Kochendörfer) Sünde und Azdeh bezahlt sie mit dem Leben. Im Iran müssen Parastou (Eli Wasserscheid) und ihr Bruder Eskandar (Marc-Philipp Kochendörfer) fliehen, weil Parastou an einer Demonstration teilgenommen hat. Aus dem Flüchtlingslager berichtet sie von ihrem vermeintlichen Wohnsitz auf der Pariser Champs-Élysées, um die dahinsiechenden und verlöschenden Eltern zu beruhigen. Der Iraker Salahaddin al Bassiri (Butz Buse) hofft in Australien auf politisches Asyl. Ein Versprecher wird ihm zum Verhängnis und er wird in den sicheren Tod abgeschoben. Bei Jochen Schölch stand er am Ende mit schwarzer Kapuze auf einem Schemel, angeschlossen an Elektrokabeln. Das Bild ging als ein Folterbild aus dem irakischen Gefängnis von Abu-Ghuraib um die Welt.
Es war nur eine kleine Auswahl von Szenen von Ariane Mnouchkine, die häufig sehr wortkarg und deren Inhalte vornehmlich aus den Haltungen abzulesen waren. Jochen Schölchs Inszenierung arbeitete auf magische Weise mit Licht und Schatten. (Licht: Hans-Peter Boden) Ein Gazevorhang, der auch als Projektionshintergrund diente, trennte psychische und physische Welten voneinander und stellte sie kommentierend oder kontrastierend gegenüber. Mehr als eine Bank brauchte es darüber hinaus nicht. (Bühne: Thomas Flach) Alles, sowohl das disziplinierte und pointierte Spiel der Darsteller, wie auch der szenische Aufwand waren auf ein Minimum reduziert, was die Aussagen der einzelnen Szenen bis ins schwer Erträgliche steigerte. Forciert wurde diese zwingende bildhafte Wirkung auch durch die noch zwingendere sehnsuchtsvolle Musik von Eleni Karaindrou.
Es gab keinen stringenten Erzählstrang, keinen Moment der höchsten Spannung, noch eine dramaturgische Auflösung und schon gar kein Happy end, was wohl auch sehr zynisch gewesen wäre angesichts des tatsächlichen Leids, wie wir es tagtäglich, und auch nur fragmentarisch aus den Medien vermittelt bekommen. Die ganze Inszenierung ist ein Aufschrei gegen die extrem ausufernden Zustände, gegen das Verhalten der Saturierten, die sich durch die Zustände bedroht fühlen und gegen die, die diese Zustände schamlos ausnutzen. Sie verschweigt aber auch nicht, dass die Flüchtenden selbst ihre eigenen Ressentiments pflegen, die sie auch gegen die Leidensgenossen aufbegehren lassen. So musste sich die Tschetschenin an ihrem englischen Arbeitsplatz von der Russin (Lilly Forgách) Hündin schimpfen lassen, was die allerdings nicht davon abhielt, sich solidarisch zu zeigen.
Es sind wenige Momente, die Hoffnung machten, in denen Humanität aufblitzte. Das Gesamtbild, und es hat sich in den Jahren seit der Pariser Uraufführung dramatisch verschlimmert, ist weitaus düsterer. Immerhin vermochte die Aufführung am Metropoltheater eine tiefe Verunsicherung auslösen und die ist als erster Schritt notwendig, um die Zustände zu überdenken, um sie zu begreifen und um sich zu positionieren. Es war Theater der Katharsis im besten Sinn. Es war großes Gefühlstheater.
Wolf Banitzki
DEA Die letzte Karawanserei
von Ariane Mnouchkine
Butz Buse, Vanessa Eckart, Lilly Forgách, Marc-Philipp Kochendörfer, Patrick Nellessen, James Newton, Sophie Rogall, Hubert Schedlbauer, Dascha von Waberer, Eli Wasserscheid Regie: Jochen Schölch |