Metropoltheater  Alice nach Lewis Carrolls "Alice im Wunderland"


 

Von weißen Hasen und dunklen Mächten

Tom Waits ist keiner, der dem Menschen aus Gutgläubigkeit oder Philanthropie einen größeren Kredit einräumt. Er ist bei aller verführerischen Poesie immer Realist. Und ein Blick auf das Schicksal des über die Maßen begabten Charles L. Dodgson und seiner Beziehung zu Alice Liddell, Tochter des Dekans des Christ Church-College in Oxford, Henry George Liddell, die 1863, Alice war 11 Jahre alt, ein jähes Ende fand, lässt ahnen und verleitet zu Spekulationen. Für Tom Waits ist diese Geschichte geradezu eine Steilvorgabe.

Der junge Charles Lutwidge Dodgson war kein gewöhnliches Kind. Siebenjährig las er „The Pilgrim’s Progress“ von John Bunyan, der das Werk in einer zwölfjährigen Gefängnishaft, er hatte gegen die Gesetze der anglikanischen Staatskirche verstoßen, niederschrieb. Es gilt noch heute als ein Schlüsselwerk der englisch christlichen Literatur. Als zwölfjähriger kam Charles, der bis dahin von Hauslehrern unterrichtet worden war, auf eine Privatschule in Richmond, wo er ein außerordentliches Talent für Mathematik offenbarte. Der Schulleiter, ein Mann namens James Tate, erkannte die genialischen Anlagen des Jungen, wurde aber durch den Vater des jungen James zu Stillschweigen verpflichtet. Dodgson sen. war der Ansicht, der Junge solle sich seiner selbst und seiner Talente nur langsam bewusst werden. Die augenscheinliche geistige Überlegenheit dürfe den Jungen nicht zur Hypertrophie verleiten.

Charles Lutwidge Dodgson erfuhr also nicht die gebührende Anerkennung und das hat ihn möglicherweise nachhaltig verändert. Er hat gestottert, ein Defekt, um den sich allerdings eine Menge Legenden ranken, und er litt unter mangelndem Selbstbewusstsein, was einigermaßen verbrieft ist. Einzig in Gegenwart von Kindern fühlte er sich glücklich, fühlte er sich unter seinesgleichen. Einen echten Halt für sein Leben hat er nie erlangt. Und unter diesen Voraussetzungen traf er, der stets unter jeder Form von Disziplinierung gelitten und der in der Literatur einen Ausweg gefunden hatte, Alice Liddell. Sie schlug ihn in den Bann, sie wurde seine Muse und sein Fotomodell. Wer seine Fotos von Alice Liddell und anderen Kindern, die alle etwa um die zehn Jahre alt waren, kennt, wird unweigerlich zu dem Schluss kommen, dass er diese Wesen auch als sexuelle wahrgenommen und sie auch dahingehend abgelichtet hat.

  Alice  
 

Patrick Nellessen, Vanessa Eckart, Nick-Robin Dietrich

© Jean-Marc Turmes

 

Tom Waits erkannte das und erzählte die Geschichte unter genau diesem Aspekt. Alice, das Objekt der Begierde des Dichters Lewis Carroll, wird von diesem in eine fantastische Welt verpflanzt, in der der Mensch Charles Lutwidge Dodgson an ihrer Seite weilt, um sie zu schützen und um ihr gleichsam nahe zu sein. Das Carollsche Werk, von Tom Waits, gemeinsam mit Robert Wilson in ein szenisches Theaterereignis verwandelt, ist in dieser Form gewagte These und Kunstwerk gleichermaßen. Philipp Moschitz, der zuletzt mit seinem Regieerstling „Abschiedsdinner“ am Metropoltheater Furore machte, brachte „Alice“ auf die Freimanner Theaterbühne, für deren Gestaltung Thomas Flach verantwortlich zeichnete und die für Metropoltheaterverhältnisse geradezu als opulent bezeichnet werden darf.

Im hinteren Teil der Bühne verbarg sich hinter dunkler Gaze ein Podest, auf dem die Musiker Platz genommen hatten, was eine tadellose ausgewogene Raumakustik gewährleistete. Im mittleren Teil, ebenfalls erhöht, stand ein auf Rollen gelagertes großes rostfarbenes Rad, in dessen Mitte sich zwei verschiebbare Elemente befanden, so dass Durchgänge entstanden, die gleichsam als Räume genutzt werden konnten, und in denen die Darsteller, sobald das Rad gedreht wurde, auch „über Kopf“ gerieten. Damit war eine wunderbar einfache und fabelhaft anzuschauende Lösung für eines der wichtigsten Bilder im Buch gefunden: Türen, im Sinne von Eingängen und Ausgängen spielen darin eine ebenso wichtige Rolle wie eine „auf dem Kopf stehende Welt“. Davor war ebenerdig noch hinreichend Platz, um artistische und Tanz-Nummern zu präsentieren.

Die Geschichte orientierte sich weitestgehend an dem Erzählfaden des ersten Buches, wobei auch hier nicht auf die spektakulären Momente aus „Alice im Spiegelland“ verzichtet wurde, wie zum Beispiel auf den Auftritt von Humpty Dumpty, dem Ei auf der Mauer. (Siehe auch „Alice im Wunderland“ am Residenztheater, Premiere 11.11.2017) Patrick Nellessen, der auch den Hutmacher verkörperte, machte den Auftritt des Eies zu einer herausragenden Szene, zumal die Debatte zwischen Alice, von einer gewinnend mädchenhaften Vanessa Eckart gespielt, und Humpty Dumpty zu erstaunlichen, im Carrollschen Werk so nicht formulierten Erkenntnissen über das Wesen von (undurchdringlichen) Mauern führte. Ob über Mauern oder irgendetwas anderes gesprochen wurde, es schwang immer die metaphorische Bedeutung der Dinge oder Vorgänge mit. Und so war auch die Figur der Alice keine ausschließlich realistische, denn Vanessa Eckart führt eine Puppe mit einer silberfarbenen Maske, ein Abbild ihrer selbst als Alice, mit sich. (Puppenbau: Lorenz Seib)

Häufig präsent war der Dichter Charles Dodgson als Beschützer und Erklärer. Diesen Part hatte Thomas Schrimm übernommen, der zugleich auch das Weiße Kaninchen und den Weißen Ritter gab. Er sang die für das Verhältnis zwischen beiden, Alice und Dodgson, wichtigsten Songs, wobei anzumerken ist, dass seine Stimme der Stimme Tom Waits am nächsten kam. Wer den Gesang von Tom Waits kennt, ist selten frei von Erwartungshaltungen, denn seine Stimme ist allzu prägnant. Hier konnte man ihn wiedererkennen. Nathalie Schott verkörperte neben der Raupe, der Haselmaus und einem Schaf auch die schrille Herzogin in barockem Unterkleid und riesigen Brüsten. Immerhin musste sie ihr Baby stillen, das sich, zum Schrecken von Alice, als Ferkel entpuppte. Die andere weibliche Hauptrolle gab Maria Hafner (zugleich Lilie und Märzhase). Ihre Königin hatte frappante Ähnlichkeiten mit einer zeitgenössischen Monarchin, die vor allem wegen ihres Geschmacks in Bezug auf Hüte und Handtaschen der Weltbevölkerung in Erinnerung ist. An ihrer Seite ein spillriger König: Robin Dietrich als Kontrastprogramm. Sebastian Griegel verkörperte neben einer ätzend-arroganten Rose das vielleicht fantasievollste Geschöpf aus dem Geiste Lewis Carrolls: die Grinsekatze.

Getragen von den melancholisch-düsteren und eingängig-melodischen Songs von Tom Waits, gelang allen Beteiligten, unter denen unbedingt noch die Kostümbildnerin Cornelia Petz lobend erwähnt werden muss, eine runde, in sich geschlossene Arbeit, die neben ihrem hohen Unterhaltungswert düstere Fragen aufwarf. Diese sind umso bedrückender, da sie sich im Spannungsfeld zwischen anheimelnder Kindlichkeit und dunkler Wahnhaftigkeit der Erwachsenenwelt aufbauen wie bedrohliche Schatten. Der Dichter Charles Lutwidge Dodgson wird nicht explizit denunziert als das, was er möglicherweise war, ein Mann, der einem Kind in Liebe und erotischem Begehren verfallen war. Allein die Möglichkeit spiegelt sich in seinem Werk, verrät aber gleichsam, dass der Mann ein getriebener war, an dessen dunkler Seite nicht ausschließlich der Natur die Schuld zugewiesen werden kann. (Soweit das überhaupt möglich ist.) Immerhin bescherte uns sein Kampf mit der dunklen Seite in ihm ein Werk, das an Größe nicht zu überschätzen ist, ein Werk, das seit nunmehr gut ein und ein halbes Jahrhundert inspiriert und auch weiterhin Leser und Künstler inspirieren wird.

Wolf Banitzki

 


Alice

nach Lewis Carrolls "Alice im Wunderland"
Musik und Gesangstexte von
Tom Waits und Kathleen Brennan
Text von Paul Schmidt
Regie, Design, Visual Concept der Originalproduktion von Robert Wilson
Deutsch von Wolfgang Wiens

Vanessa Eckart, Thomas Schrimm, Sebastian Griegel, Patrick Nellessen, Maria Hafner, Nathalie Schott, Nick Robin Dietrich

Musikal. Leitung/Arrangements: Andreas Lenz v. Ungern-Sternberg
Cello: Emil Bekir/Monika Fuhs
Schlagzeug: Stefan Gollmitzer/Johannes Rothmoser
Kontrabass: Rene Haderer/Julia Hornung
Piano: Andreas Lenz von Ungern Sternberg
Klarinette, Saxophon: Silvan Kaiser/Steffen Schmitt/
Ulrich Wangenheim

Regie: Philipp Moschitz

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